das Geheimnis des Findus - oder: vom Umgang mit Konflikten und Krisen
Es war einmal vor langer, langer Zeit, als die Erde noch Feuer und Steine spuckte.
An einem unbekannten Ort, zu unbekannter Zeit wurden am gleichen Tag, ganz nah bei einander, zwei Wesen geboren. Die Vorsehung verlangte es, dass die Eltern des einen Neugeborenen, gleich nach dessen Geburt von glühenden Steinen erschlagen wurden.
Das Neugeborene war nun hilflos, dem Tode geweiht den Naturgewalten ausgesetzt. Da geschah es, und es war bestimmt kein Zufall, das ein Luchs das hilflose Wesen entdeckte. Seine Frau hatte gerade selbst ein Kind zur Welt gebracht und so nahm er es in sein Maul und brachte es zu seinem Weib, welches fortan, beide Neugeborenen nährte.
Dem eigenen Kind gab man den Namen Luca, denn es war Tradition in dieser Luchsfamilie, das jeder männliche Erstgeborene diesen Namen trug. Dem Findelkind, gab man den Namen Findus.
Luca und Findus wuchsen schnell heran, und für Findus stand außer Frage das dies seine leiblichen Eltern waren.
Luca entwickelte sich prächtig und war der Sonnenschein der Familie. Findus hingegen war eher das Sorgenkind. Er tat sich schwer, auf Bäume zu klettern, oder von einem Baum herunter zu springen. Oft grämte sich Findus, wenn sein Bruder Luca sich über ihn lustig machte, weil er es wieder mal nicht schaffte auf einen Baum zu klettern. Was war nur mit ihm los? In Findus wechselten sich Gefühle von Trauer und Wut ab. Alles was er empfand, war ein großer Schmerz, nicht so zu sein, wie sein Bruder Luca. Und dieser Schmerz legte sich über seinen Kopf, und hinderte ihn am Denken.
Als die Zeit reif geworden war, sollten Luca und Findus in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden. Zuvor mussten sie jedoch eine Prüfung bestehen. Wie es ihnen die Alten gezeigt hatten sollten sie ein Tier erlegen. Luca und Findus legten sich auf der Lauer; ein jeder in einem anderen Waldstück. Schnell sprang, Luca aus seinem Versteck, als ein Reh sich ihm näherte und riss das Tier mit seinen Krallen.
Findus, der sich ebenfalls au die Lauer gelegt hatte, musste ebenfalls nicht lange warten, bis ein stolzer Hirsch seinen Platz passierte. So wie man es ihm beigebracht hatte, sprang er aus seinem Versteck auf den Hirsch zu. Doch bevor Findus ihn erreicht hatte war dieser davon gerannt. So musste sich Findus erneut auf die Lauer legen. Nie gelang es ihm, in der Katzen eigenen Art ein Tier zu erbeuten. Was sollte nun geschehen? All der Schmerz den Findus in seinem Leben empfunden hatte brach auf einmal aus ihm heraus. Er war gescheitert und würde wohl nie in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden, während man Luca vermutlich schon feierte.
Findus sah keinen Ausweg mehr. Er wollte sterben, wollte sich dieser ungerechten Welt für immer entziehen. Statt zu den Anderen zurück zu kehren, schlich er allein hinaus in den Wald, sicher bald den Tod zu finden.
Es war längst dunkel geworden und der Mond hatte sein silbernes Licht auf die Wipfel der Bäume gelegt, als Findus sich auf eine Lichtung zu bewegte. Er wurde ganz unruhig, nahm er doch den Geruch von fremden Wesen war. Es waren Menschen, welche sich dort Lichtung befanden. Ein Zauberer und sein Schüler, der in dieser Vollmondnacht in die höchsten Weisheiten der Magie eingeweiht werden sollte. Findus versteckte sich hinter einem Busch und belauschte die Menschen. Er konnte ihre Sprache verstehen, und so nahm er wahr wie der Zauberer sagte: „Merke dir mein Sohn, die größte Weisheit der Welt die Regel welche das gesamte Weltbild und der Sterne bestimmt, -und dies darfst du nur mündlich weitergeben- lautet: „ Wie oben so unten, wie außen so innen“.
Mehr konnte Findus nicht hören da der Wind sich gedreht hatte, die Worte des Zauberers nun in eine andere Richtung getragen wurden.
Findus fragte sich was dies zu bedeuten hatte. Seine Todessehnsucht war nun der Wissbegierde gewichen. In Gedanken vertieft streifte er weiter durch den Wald. So geschah es, -und es war bestimmt wieder kein Zufall-, das er an einem See vorbei kam, und im Licht des Vollmondes sich selbst im See erkannte. Noch nie hatte er zuvor sein Spiegelbild erblickt. Und er sah. Er war gar kein Luchs, wie er immer gedacht hatte, er sah ganz anders aus.
Was für eine Nacht! Er machte sich auf den Weg um andere Geschöpfe zu finden, die seinem Spiegelbild ähnelten. Minute um Minute, Stunde um Stunde irrte er im Wald umher, auf der Suche nach Geschöpfen wie er. Nach langem Suchen traf er auf ein Rudel Wölfe, denn Findus war ein Wolf. Nach einigem hin und her bot man ihm einen Platz in ihrem Rudel an.
Jedoch dauerte es noch einige Zeit, bis er so bellen, heulen und jagen konnte wie sie. Am Anfang lachten sie ihn seiner absonderlichen Verhaltensweisen aus. Der Schmerz stieg wieder auf in ihn, doch mit der Zeit wurde dieser geringer und geringer. Es wurde ihm eine Freude den Mond anzuheulen, oder mit der Meute die Beute zu hetzen.
Nach unzähligen Tagen und Monden war es Findus, dessen Rat und Tatkraft man im Rudel schätzte -hatte er doch Dinge erlebt, von denen kein anderer Wolf wusste-. Viele weitere Monde später wurde er sogar selbst zum Leittier des Rudels.
Er herrschte lange und erfolgreich über sein Rudel und zeugte viele Nachkommen. Die Geschehnisse in der Mondnacht vergaß er jedoch nie, und das Geheimnis des Zauberers lenkte ein Leben lang sein Geschick. Die Narben des Schmerzes schützten ihn vor unangemessenen Tun und Überheblichkeit.
Solltet ihr einmal einen Wolf treffen und diesen nach Findus fragen, so wird dir dieser bestimmt die gleiche Geschichte erzählen.
© 2012 (Text) / 2015 (Audio) / 2020 (Blog)
Hans Jürgen Groß