Ein Weihnachtswunder
Ein
Weihnachtswunder
eine Weihnachtsgeschichte von Hans Jürgen Groß
Erschreckt
setzte sich Lukas in seinem Bett auf. Er war noch ganz in einem Traum
gefangen, dem er gerade entronnen war. Er fühlte, wie sein Herz
raste, hatte die Stimmen der Traumgestalten noch im Ohr: „Du
entkommst uns nicht, Abschaum, Missgeburt, Du! Dein einziger
Lebenssinn besteht darin, dass wir dich quälen dürfen.“ Er
sah noch ihre aufgerissenen Münder mit den Reißzähnen, ihre
gelben, stechenden Augen, die ihm aus dem Dunkeln heraus anstarrten.
Was für ein Horror.
Nur ganz allmählich gelang es Lukas, in
die Realität zurückzukehren. So einen Traum hatte er noch nie
erlebt. Vielleicht lag es an dem heutigen Tag, dass er solch einen
Mist träumte. Es war Heiligabend, der schrecklichste Tag im Jahr,
wie Lukas fand.
Draußen vor dem Fenster war es schon
hell geworden. Er schaute auf die Uhr, die am Kopfende seines Bettes
stand. 9.34 Uhr zeigte diese an. Schnell sprang Lukas aus dem Bett.
Es war Zeit, aufzustehen. Er zog die Sachen an, welche auf einem Stuhl
im Zimmer lagen. Hingeworfen, wie er sie gestern Abend ausgezogen
hatte. Schnell huschte er in die Küche, machte sich eine Schale mit
Cornflakes, die er hastig hinunterschlang.
Im Flur hörte er aus dem Wohnzimmer
die Stimmen aus dem Fernsehgerät. Es
ist wie jedes Jahr, schnell, dass ich hier wegkomme, dachte er.
Sein Alter hockte den ganzen Tag vor der Glotze. Am Heiligabend war
es halt noch schlimmer als sonst. Da es keinen Gott gibt, musste man
dieses Fest auch nicht feiern, meinte sein Vater. Stattdessen fing
dieser schon am frühen Morgen an zu saufen. Seine Stimmung wurde von
Stunde zu Stunde schlechter. Erst meckerte er über den
Weihnachtsmist, der in den Sendern lief, dann fing er an
herumzuschreien, dass er mehr Respekt von ihm und seiner Mutter
erwarte, anschließend setzte es Prügel. Am frühen Abend war er
dann so abgefüllt, dass er schnarchend in der Ecke lag. Dieses Spiel
machte er nicht mehr mit. Nein, nicht mit Lukas. In diesem Jahr
wollte er dem Terror entgehen, indem er einfach das Haus verließ.
Und wenn er erst einmal 15 Jahre alt wäre, dann würde er
zurückschlagen, da könne der Alte etwas erwarten, dachte Lukas.
Noch drei Jahre, dann zeige ich es dir, du Scheißkerl.
„Bin dann mal weg“, rief er
im Flur. Die zustimmenden Worte aus dem Wohnzimmer hörte er nicht
mehr, denn die Wohnungstür war bereits hinter Lukas ins
Schloss gefallen. Er rannte die Treppen hinunter, raus aus dem Haus,
hinein in die pulsierende Stadt, dieses frühen Heiligabends.
Lukas jubelte innerlich. Er hatte es
geschafft, er war seinem Alten entkommen. Jetzt musste er nur noch
den Tag irgendwie über die Runden bekommen. Gegen Abend, wenn der
Alte schlief, konnte er wieder nach Hause zurück. Lukas fühlte sich
gut, stark und machtvoll. Er war stärker als sie; stärker als der
Alte, stärker als all die anderen. Er würde es ihnen allen zeigen,
so wie er in der Schule es bereits allen gezeigt hatte. Mittlerweile
hatte er die Position des unangefochtenen Anführers inne. Alles, was er sagte, setzten die Jungs aus seiner Gang für ihn um.
Doch heute war er allein. Scheiße,
dachte Lukas. Sogar Serkan bekam heute Geschenke, obwohl er ein
Moslem war. Und bei ihm zu Hause gab es nur eine Tracht voll Prügel
als Geschenk. So mit sich in Gedanken vertieft strich Lukas durch die
vollen Einkaufszentren, wo die Menschen ihre letzten Besorgungen für
das Fest erledigten.
Doch immer wieder tauchten vor Lukas
innerem Auge die Bilder des Traums der letzten Nacht auf. Je mehr er
versuchte, sie zu verdrängen, umso eindrücklicher wurden diese. Er
hatte sich versteckt, winzig gemacht vor Angst. Es gab kein
Entkommen in diesem Traum. Er war sich wie eine Maus vorgekommen, in
einem Land voller Katzen. Überall hatten sie gelauert, ihn bedroht.
Sogar die Menschen, die ihm scheinbar helfen wollten, hatten sich in
Angreifer verwandelt, die ihn hämisch verspotteten. Er konnte
niemandem trauen, nirgendwo gab es Hilfe. Noch immer hörte er ihre
Worte: „Und sei dir gewiss, falls einer dir wirklich helfen
will, der kann nicht immer bei dir sein. Wir werden dich für ihn
bestrafen. Nein, wir töten dich nicht! Wollen wir doch unseren Spaß
mit dir behalten, wie du dich in deiner Hilflosigkeit unfähig
wehrst, zu unserer Freude.“ Ja, hilflos und klein hatte er sich
in diesem Traum gefühlt, so hilflos wie noch nie in seinem ganzen
Leben. Was wollte dieser Traum ihm sagen und warum verfolgte er ihn
noch in den Tag hinein? Gerade jetzt, wo er seinem Alten einen Haken
geschlagen hatte. Verdammt noch mal, er war doch kein elendiges
Opfer.
Zwischenzeitlich hatten die Geschäfte
geschlossen, die Straßen der Stadt hatten sich geleert und auch die
Buden des Weihnachtsmarktes machten nacheinander zu. Nur noch
vereinzelt lief ein Mensch schnellen Schrittes, auf dem Weg nach
Hause, an Lukas vorbei. Die Stadt bereitete sich auf den Heiligen
Abend vor.
Es dämmerte bereits, als Lukas gewahr
wurde, dass er sich in einer Ansammlung von Menschen befand. Etwa 10
Meter von ihm entfernt führten Personen auf einer Bühne irgendein
Theaterstück auf. Lukas brauchte einige Zeit, um zu erkennen, dass
hier das Krippenspiel aufgeführt wurde. Blieb ihm denn gar nichts
erspart? Erst dieser Traum, der ihm immer noch in den Knochen hing
und jetzt auch noch das! Was war nur heute los mit ihm?
Er wollte sich gerade abwenden und
gehen, als er vor sich einen Jungen gleichen Alters wahrnahm. Es war
Jan, der dort stand. Jan aus Lukas Klasse, den er Dumbo getauft
hatte. Dumbo war ein kleiner zierlicher Junge mit blondem Haar und
leicht abstehenden Ohren. Es hatte Lukas Spaß gemacht, zu
beobachten, wie Jan sich gegen diesen Spottnamen wehrte. Doch
mittlerweile wurde er von der ganzen Schule so genannt, sogar ein
Lehrer hatte ihn im Unterricht so angesprochen. Dumbo war ein
wirkliches Opfer. Man konnte ihn schlagen, in den Schwitzkasten
nehmen, in der Mädchentoilette einsperren, ihm seine Sachen
wegnehmen und durch die Klasse werfen und noch unzähliges mehr.
Dumbo war einfach nicht in der Lage, sich zu wehren. Stattdessen
schlug er wie wild und unkontrolliert um sich, fing an zu weinen und
die Worte kamen nur noch stotternd aus ihm heraus. Lukas äffte ihn
häufig nach und alle in der Klasse lachten, sogar die Mädchen.
Lukas überlegte bereits, mit welcher Gemeinheit er Jan jetzt
begegnen sollte, als dieser sich zu ihm umdrehte.
Kurz, nur ganz kurz, einen
Wimpernschlag lang vielleicht, trafen sich ihre Blicke. Doch für
Lukas war es, als würde die Zeit stillstehen bleiben. Die Menschen um
ihn herum verschwanden. Es gab nur noch ihn und Dumbo. Sie waren
beide von einer Glocke aus goldenem Licht umschlossen, über die
Augen fest miteinander verbunden.
Lukas konnte wahrnehmen, wie sein Herz
immer größer zu werden schien. Ein warmes, unbeschreiblich schönes
Gefühl füllte ihn aus. Gleichzeitig spürte er, wie er allen
Schutz, alle Kontrolle verlor. Dies machte ihm Angst. Doch das
schöne, warme Gefühl in seiner Brust war stärker als jede Angst;
es wurde größer und größer, wuchs und wuchs. Über sein Gesicht
liefen Tränen. Doch es waren nicht die Tränen der Angst oder der
Trauer, sondern Tränen der Freude und des Glücks, die er vergoss. ---- Lukas hatte verstanden.
Diese Weihnachtsgeschichte ist auch als Hörbuch und eBook hier erhältlich.
© 2014 Hans Jürgen Groß
Zusammenfassung:
Lukas ist ein 12-jähriger Junge, der in einer schwierigen familiären Situation lebt. Sein Vater ist ein alkoholabhängiger Tyrann, der Lukas regelmäßig misshandelt. Lukas fühlt sich hilflos und einsam und hat Angst vor seinem Vater.
An Heiligabend träumt Lukas einen schrecklichen Traum, in dem er von bösen Gestalten verfolgt wird. Nach dem Aufwachen beschließt er, das Haus zu verlassen, um seinem Vater zu entkommen.
In der Stadt trifft Lukas auf Jan, einen Jungen aus seiner Klasse, der ebenfalls ein Opfer von Mobbing ist. Lukas ist zunächst entschlossen, Jan zu verspotten und zu schikanieren. Doch als er Jan in die Augen sieht, passiert etwas Unerwartetes: Lukas fühlt sich plötzlich mit Jan verbunden und empfindet Mitleid mit ihm.
Lukas und Jan werden von einer Glocke aus goldenem Licht umschlossen und sind sich plötzlich ohne Worte verständlich. Lukas erkennt, dass er Jan helfen kann und er selbst nicht so hilflos ist, wie er dachte.
Interpretation (Google Bard):
Der Text kann als Parabel über das Thema Mobbing und Gewalt verstanden werden. Lukas ist ein typisches Opfer von Mobbing: Er ist hilflos, einsam und hat Angst. Er fühlt sich wie ein Gefangener in einem Kreislauf von Gewalt und Angst.
Der Traum, den Lukas hat, ist ein Ausdruck seiner inneren Angst und Verzweiflung. Er fühlt sich von den bösen Gestalten verfolgt, die ihn quälen und vernichten wollen.
In Jan findet Lukas einen Spiegel seiner selbst. Jan ist ebenfalls ein Opfer von Gewalt und Mobbing. Lukas erkennt, dass er Jan helfen kann und er selbst nicht so hilflos ist, wie er dachte.
Die Glocke aus goldenem Licht symbolisiert die Kraft der Liebe und des Mitgefühls. Sie verbindet Lukas und Jan und lässt sie sich ohne Worte verstehen.
Stichworte:
Mobbing, Bullying, Gewalt, Opfer, Traum, Erkenntnis, Liebe, Mitgefühl
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