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Die Welt als Spiegel - oder: Von der Weisheit der alten Frau


Es war eine junge Frau auf der Suche nach dem Sinn in ihrem Leben. Ziellos pilgerte sie durch die Welt. Sie fühlte sich müde und ausgebrannt und fürchtete sich vor der Zukunft. Jeder Tag schien, wie der andere zu sein. Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern.

Auf ihrem Weg traf sie viele Menschen. Doch niemand schien wirklich glücklich zu sein. Es gab da zwar die Lustigen, aber tatsächlich verdeckten sie ihre Angst vor der Einsamkeit. Andere klagten offen ihr Leid über Verlassenheit und erlebte Ungerechtigkeiten. Wieder andere wollten mit Macht, Krieg und Unterwerfung ihre Ziele durchsetzen. Sie sahen nur den eigenen Vorteil und waren innerlich leblos. Und dann gab es noch die Krankheit und den Tod. - Elend und Leid, wohin sie sah und das ihr Herz berührte.

Eines Tages traf sie auf eine alte Frau, die am Rande eines Dorfes lebte. Diese war als die Weise bekannt und kannte die Geheimnisse des Lebens. Die Pilgerin fragte die alte Frau: „Warum geschieht all dieses Übel? Warum müssen wir Menschen so leiden? Was ist der Sinn von all dem?“ Die alte Frau sagte: „In deinem Denken bist du auf die Vermeidung des Geschehenen fokussiert. Du solltest dich nicht fragen, warum etwas geschehen ist, sondern wie du darauf reagierst. Es geht nie darum, an etwas Vergangenen festzuhalten, sondern die Zukunft mit dem, was ist, neu zu gestalten. Suche nicht den Sinn im Unabwendbaren, sondern schaffe ihn. Frage dich nicht, was du von der Welt bekommst, sondern was du ihr geben kannst. Alles ist im Gleichgewicht, und wenn du etwas von dir gibst, wirst du auch einen Ausgleich hierfür erhalten.“ 

„Und wie soll ich das tun?“, fragte die Pilgerin.

„Indem du alle Wesen in deinem eigenen Selbst und dein eigenes Selbst in allen Wesen siehst“, sagte die alte Frau. „Du bist nicht getrennt von dem, was dich umgibt, sondern du bist ein Teil hiervon. Verstehe, dass du nicht nur für dich selbst lebst, sondern für das Ganze. Schenke deine Liebe, ohne zu erwarten, geliebt zu werden.“

„Und was wird das bewirken?“, fragte die junge Frau. 

„Es wird dir all das bringen, was du bisher erfolglos gesucht hast“, antwortete die Weise. „Nenne es Frieden, Freude, Glück oder Sinn. Du wirst Verbundenheit erfahren und keine Angst mehr haben.“ 

Die Pilgerin dachte über die Worte der Weisen nach. Sie spürte eine Veränderung in ihrem Denken und fragte sich, warum sie nicht dem Rat der alten Frau folgen und im Dorf bleiben konnte, um den Suchenden und Kranken zu helfen. So gab die junge Frau ihre eigene Suche auf und widmete sich in Liebe der Welt des kleinen Dorfes. Sie erzählte den Menschen von ihrem Leben und ihren Gefühlen, schlichtete Streit und half den Bedürftigen, indem sie Essen und Wasser teilte. Sie lächelte und tröstete und berührte mit ihrem Lächeln sanft. 

Alles war, wie die Weise es vorhergesagt hatte. Die Welt war ein Spiegelbild ihrer selbst und sie selbst ein Spiegel der sie umgebenden Welt. Nur der gegenwärtige Moment zählte, und das Leben belohnte sie reichlich.


Text © 2023 Hans Jürgen Groß

Bildidee und Bearbeitung: © 2023 Hans Jürgen Groß
Bildgestaltung: Bing Image Creator





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