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Das Meer und die Grenzen des Lebens (eine Schreibübung aus meinem Reisetagebuch 1987)

Donnerstag, 4.6.1987 (Norderney)


Monotones Rauschen dringt an mein Ohr. Die Luft, die an meinen Ohren vorbeisaust, bringt den Geruch von Meer mit zu mir. Ich sitze am Strand und sehe dem gleichmäßigen Branden der Nordsee zu.  Beinahe 3 Wochen sind es her, seit ich zum ersten Mal diese Insel betrat. Ein Juwel im Meer, die eine kleine Welt für sich ist. Denn sie bietet alles auf kleinstem Raum, was der bundesdeutsche Bürger für sich zum Leben in Anspruch nimmt.  Unzählige Geschäfte, Restaurants, Kneipen, Pensionen, eine Spielbank, ein Kino, ein Schwimmbad. 

Dazu eine Natur, die das menschliche Leben nicht genauer beschreiben könnte. Ein Meer, das in seinem ständig gleichmäßigen Rhythmus an die immer gleichen Ufer brandet. Alle paar Stunden in der Regel der Gezeiten zieht es sich zurück oder nimmt es sich den Raum, der ansonsten von Mensch und Tier bevölkert wird. Im unendlichen Rhythmus der Zeit. Einer Zeit, die hier die Grenzen des Lebens aufzeigt. Noch nie zuvor ist mir die Eintönigkeit und Gleichmäßigkeit des Lebens so bewusst geworden (Phrase?). Trotz frühem Aufstehens ging der Tag viel zu früh und oftmals unvollendeter Dinge zu Ende. 

Was wurde aus den Plänen, die man sich anfangs gesetzt hatte? Es war ein Leben in den Tag hinein, dem keine, auch nicht durch kleine Probleme, Grenzen gesetzt werden. Genauso schnell wie problemlos verflog die Zeit. Bereits morgen müssen wir abreisen. 

Dieses problemlose Leben zeigte aber auch grundsätzliche Wirkungen auf mich. Es machte mir deutlich, wie oberflächlich und kurz mein Existenzraum ist. Ich hatte oftmals das Gefühl, dass ich die Wirkungen der Natur, die mir hier geboten wurden, nur oberflächlich aufnahm. Oft war das Gefühl vorhanden, eine Situation länger, bestimmter und intensiver zu erfahren, zu genießen. Doch dies war mir nicht möglich. 


Ziel allen Strebens darf es nicht sein, so schnell wie möglich das Kommende zu genießen und Ruhm – Ansehen und Ehre zu ernten, sondern intensiv die unendlichen Möglichkeiten, die der relativ kurze existenzielle Spielraum bildet, zu erleben. Doch wie dies ermöglichen? Zeit nehmen für das Detail, die gesetzten Grenzen ausnutzen und über die Ufer treten. H. Heine schrieb einmal auf dieser Insel, das Meer ist so unruhig wie meine Seele. Ein Ausspruch, dem ich bisher vorhielt, dass er übersah, dass das Meer eingegrenzt ist.

Doch das Meer nimmt sich die Freiheit, seine ihm gesetzten Grenzen zu nutzen. Es kommt und geht und ist an einigen Tagen unberechenbar wild, wie es an anderen Tagen still und träge wirkt. 

Auch diese Schreibübung zeigt mir, ich muss wieder lernen meine Grenzen zu nutzen, mir aber andererseits die Zeit zu lassen, Stimmungen auf mich wirken zu lassen, und diese intensiv zu empfangen. 


Zusammenfassung: Der Autor beschreibt seine Erfahrungen auf einer Insel, die alles auf kleinstem Raum bietet und die ihm die Eintönigkeit und Gleichmäßigkeit des Lebens aufzeigt. Er erkennt, dass er oberflächlich lebt und dass er lernen muss, seine Grenzen zu nutzen und intensiv zu empfinden. Das Meer und die Insel symbolisieren für ihn die Freiheit, Grenzen zu nutzen und Stimmungen auf sich wirken zu lassen.


 








© 1987 - Hans Jürgen Groß / © 2023 - Bearbeitung Hans Jürgen Groß

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