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Im Auge des Sturmes herrscht Achtsamkeit - Oder: mit Jürgen Groß unterwegs

In der aktuellen Februar / März 2022 Ausgabe der Kasseler StadtZeit ist ein Artikel zum Thema Resilienz erschienen, dessen Inhalt ein Interview mit mir zugrunde liegt. Der Artikel wurde von meiner Tochter Johanna Groß verfasst, die bereits seit mehreren Jahren freie Mitarbeiterin der StadtZeit ist.

„Im Auge des Sturmes herrscht Achtsamkeit“

Resilienz ist für jeden individuell. Eine allgemeingültige Lösung gibt es nicht. Von der Natur können die Menschen allerdings Achtsamkeit lernen. Alles liegt im Gleichgewicht und jede Empfindung, jedes Gefühl und jedes Lebewesen hat seine Daseinsberechtigung.

Am Wanderparkplatz weht ein rauer Wind. Hoch oben in den Wipfeln der Bäume hängt ein großes Windspiel, das sich behäbig von einer zur anderen Seite bewegt. Im Gegensatz zu seinen kleineren Schwestern und Brüdern, den Bambus- oder Edelstahlklangspielen die viele Gärten sanft melodisch umhüllen, ertönt ein blecherner, fast schon klirrend surrender Ton aus seinen Inneren. Jürgen Groß hält seine Kamera auf das Windspiel. Es ist das erste Foto unserer Wanderung. In der Natur tankt der Berater und Coachauf. So ist es nicht verwunderlich, dass es auch die Natur ist, die ihm Resilienz gelehrt hat: „Die normale Resilienzliteratur die man überall findet, als Sachbuch oder aber als Infoheftchen von den Krankenkassen, verkauft Resilienz anders, als ich sie verstehe. In der „klassischen“ Resilienz geht es, zumindest so wie ich es lese, immer darum, dass du nicht in Ordnung bist wie du bist, verändere dich. Die sieben Säulen der Resilienz beruhen auf Veränderung, eine Säule sagt etwa, du sollst Optimist oder optimistischer sein. Wenn ich das aber nicht bin, heißt das ja im Umkehrschluss, dass ich nicht in Ordnung bin. Ich muss mich verändern. Auf diese Art und Weise kann ich keine Menschen begleiten, damit sie ihren eigenen Weg aus einer Situation, aus einer Krise herausfinden. Ich verstärke mit solchen Aussagen nur ihre negativen Empfindungen. Mit diesen Botschaften verstärke ich, Ich bin nicht in Ordnung“, erklärt Jürgen Groß.

Das Windspiel weht nun etwas heftiger von Seite zur Seite, fast schon verheddert es sich in den kahlen Ästen der Bäume, die es dort oben, weit über unseren Köpfen tragen. „Du bist in Ordnung wie du bist. Ich möchte den Leuten theoretischen Input geben, um sich selbst besser kennenzulernen und sich besser zu sehen. Es geht um die eigenen Bedürfnisse, beispielsweise, dass man herausarbeitet und vielleicht zum ersten Mal sieht, welche Bedürfnisse man überhaupt hat.“

„Erkenne dich selbst!“

Der schmale Pfad vor uns ist schlammig aufgequollen. Die Fußstapfen von einigen anderen Menschen, die an diesem Morgen den Weg betreten haben, sind zu sehen. Manche trugen schwere Wanderschuhe, wieder andere hinterließen ein leichtes Sportschuhprofil. Einer von ihnen wurde von einem großen Hund begleitet. Der Weg vor uns wird immer dunkler, immer dichter umrahmen uns Äste und Büsche. Von einem der Bäume tropft eine einzelne durchscheinbare Perle hinab in eine spiegelnde kleine Pfütze, nur wenige Zentimeter von meinem Fuß entfernt. „Wir Menschen sind nicht gleich. Wir kommen nicht als Tabula Rasa, als ungeschriebenes Blatt, auf die Welt. Jedes Kind, das geboren wird, ist anders. Im Ergebnis heißt das, dass wir nicht gleich sind und dass es, daraus folgernd, nicht die Lösung für alle gibt. Meine Resilienzlösung ist nicht deine und nicht die von Frau X oder Herrn Y. Jeder ist anders gestrickt und jeder Umgang mit Problemen, mit schwierigen, stressigen Situationen ist individuell.“

Jürgen Groß entdeckt unweit von uns eine schwarzweiß gescheckte Elster am Waldrand. Der kleine Vogel nutzt sein Versteck, im kalten Waldboden, um sich mit Winterproviant zu versorgen.

„Man kann den Menschen beibringen, sich selbst besser kennenzulernen. ‚Erkenne dich selbst! ’ Das ist ein alter philosophischer Grundsatz. Damit ich mich erkennen, kann braucht es eine Fähigkeit hinzuspüren, hinzufühlen, hinzusehen und das erreiche ich mit Achtsamkeitsübungen. Achtsamkeit hilft mir zu üben besser zu verstehen und gewahr zu sein, wie ich im Leben stehe. Ah ja, das ist gerade mit mir.“

Jürgen Groß öffnet leicht seine Hände, wie um zu spüren, ob es regnet und lächelt verschmitzt. „In der Achtsamkeit nehmen wir einfach auf, nehmen wahr, ohne dem Erfahrenen eine Wahrgebung zu geben. Wahrnehmen bedeutet zu spüren, Wahrgebung heißt, ich interpretiere, gebe dem, was ich wahrnehme eine Bedeutung, eine Bewertung. Da bin ich dann in meinen Glaubenssätzen, in meinen Mustern drin, die ich von klein auf gelernt habe. Diese aber wollen wir aufbrechen.“

„Eine Eiche ist kein Schilfrohr“

Ein fast gänzlich entwurzelter Baum versperrt uns den Weg. Seine starken Wurzeln prangen in die kalte Luft hinein. Der Boden hat sich rund um die Wurzeln angehoben, so als könne man den Baum, wie einen Deckel spielend leicht wieder auf sein Gefäß setzen. Jürgen Groß fotografiert das Spiel der kräftigen Wurzeln. Dann gehen wir weiter, vorbei an einem Teich, an verdorrten, wüst abgeknickten Schilfrohren. Der Wind und die Kälte haben sie als Ganzes erwischt.

„Viele verschiedene Menschen haben sich schon mit den Temperamenten, die wir von Geburt an haben, beschäftigt, das ist ein urphilosophisches Thema. Früher nannte man diese Temperamente der Choleriker, der Sanguiniker, der Phlegmatiker und der Melancholiker. Diese Temperamente haben Einfluss auf unsere Resilienz. In dem von mir entwickelten System ist der Choleriker die starke Eiche, der Sanguiniker das Schilfrohr, der Phlegmatiker ist das Schiefe Bäumchen, das mit dem Wind wächst und der Melancholiker ist die Pusteblume.“

Ich schaue mich im Wald um und erkenne die darin liegende Metapher, des Systems. Die Eiche ist stark, kraftvoll und präsent. Sie lässt den Sturm des Lebens einfach abprallen. Das Schilf wächst immer in Gruppen, zugleich wird es ganz flexibel vom Sturm gelenkt. Das schiefe Bäumchen hat sich den Wind zu eigen gemacht, wächst einfach mit ihm mit und die Pusteblume, sie nutzt den Wind ganz kreativ um in die Welt hinauszugleiten.

Jedes Temperament hat seine eigene Resilienz

„ Aber zugleich hat jedes Temperament damit auch einen Angriffspunkt. Es ist ungemein kräftezehrend, dem Sturm voller Dominanz zu trotzen und man ist relativ allein, denn die anderen jammern, fallen bei dem Wind einfach um. Das macht so eine Eiche schnell einsam. Das Schilfrohr hingegen ist immer im Außen, es ist sozial, feiert gerne, aber es ist von den eigenen Gefühlen abgelenkt.

In einer Pandemie, das sehen wir jetzt gerade, leidet das Schilfrohr ungemein. Beide Gruppen, also Schilfrohr-, wie auch Eichetypen kommen in der klassischen Resilienzforschung gar nicht vor, da geht es eher um das schiefe Bäumchen und die Pusteblume, aber auch Eiche und Schilfrohr haben ein Resilienzbedürfnis. Das schiefe Bäumchen scheut Veränderungen, es ist introvertiert und sozialorientiert und damit stetig. Deswegen wächst es mit dem Wind einfach mit, anstatt sich zu trauen seine eigene Position zu verteidigen. Und die introvertierte, zielorientierte Pusteblume ist sehr kreativ, zugleich spürt sie alles viel tiefer auch das Leid, sie wird durch den Sturm schnell überrumpelt.“


Jürgen Groß holt erneut seine Kamera heraus, betrachtet die Bilder der Wurzeln und des Schilfs. „Einem schiefen Baum oder einer Eiche zu sagen, ‚du musst dich mehr mit dem Wind drehen!’ ist total falsch. Das bringt nichts. Denn es ist der falsche Ratschlag für dein Temperament. Es ist wichtig sich selbst besser kennenzulernen, zu erkennen, was brauche ich, wenn der Sturm der Krise weht. Das Auge des Wirbelsturms ist die Achtsamkeit, hier ist alles ruhig, ich bin gelassen während drum herum die Welt regelrecht zusammenbricht. Da wollen wir hinkommen.“

Einen Notfallkoffer bereithalten

Ein Brett liegt provisorisch über einer schmalen Grube, durch die sich ein kleines Rinnsal schlängelt. Die große Wanderkarte auf der anderen Seite informiert uns, dass nun der letzte Abschnitt unseres Spaziergangs begonnen hat. Den Weg, den wir bereits hinter uns gelassen haben, können wir innerhalb kürzester Zeit mit dem Finger auf der Karte abwandern. „Ich benutze gerne das Bild der Ampel für die Resilienz. Rot ist die Krise, Grün das normale Leben und Gelb, dass ist der Übergang, dort kann ich noch handeln, habe noch Handwerkszeug an meiner Seite, um mich vor der Krise zu bewahren. Solange das grüne Licht leuchtet, kann ich mir einen Notfallkoffer vorbereiten, der in schwierigeren Zeiten an meiner Seite ist. Er ist gefüllt mit Dingen, die mich aus dem akuten Stress herausholen. Etwa mit einem Fläschchen Lavendelöl, an dem ich schnuppern kann oder einen Igelball, der zwar ein bisschen weh tut in meinen Händen, zugleich bringt er mich, wenn ich vor einem wichtigen Termin nervös bin, zurück in meinen Körper. Ich verliere nicht den Kontakt zu meinen Gefühlen. Sehr hilfreich ist es auch, sobald ich meine Resilienz üben will, mit einem Tagebuch der schönen Momente zu beginnen. Denn jeder Tag, so stressig oder so langweilig er auch zu sein scheint, trägt schöne Dinge in sich. Man notiert sich abends das Gute, das Schöne. Das ändert die Sicht. Ich nehme wahr, dass heute auch etwas Schönes passiert ist, gleichzeitig kann ich an meinem Tagebuch ablesen, was mir gut tut.“

„Leben ist Entwicklung“

Ansonsten arbeitet Jürgen Groß gerne mit Meditationen, Fantasiereisen und Sinngeschichten. Wir versuchen uns an einer Gehmeditation. Ich spüre, wie meine Füße auf dem weichen Untergrund Halt suchen, merke, wie sich meine Stimmung, wie sich meine Präsenz verändert, als ich versuche zu laufen, als würde mich eine Perlenkette durch meinen Kopf mit dem Himmel und durch den Rumpf hindurch mit der Erde verbinden. Wir treten nun auf eine Wiese. Unter meinen Füßen knackt es, das Gras ist gefroren. Mit einem Klick seiner Kamera holt mich Jürgen Groß wieder zurück ins Hier und Jetzt: „Wir sind Menschen und wir alle unterliegen einer Entwicklung. Wir sind nicht immer gleich alt, wir leben, wachsen und vergehen. Jeder kommt an gewissen Punkten im Leben in vorherbestimmte Krisen. Das ist ganz normal. Wenn man das weiß und für sich erkannt hat, dann ist es viel einfacher damit umzugehen. Wenn es im Winter schneit und ich bin ein Sommermensch, dann kann ich daraus eine große Krise machen, weil ich nur den Sommer gewohnt bin. Oder ich kann sagen: ‚Ah, jetzt ist Winter. Es schneit. So fühlt sich also Schnee an.‘ Das ist ein Teil der Biografiearbeit, die zum Thema Resilienz dazugehört. Denn die Biografie des Menschen ist immer an gewisse Krisen geknüpft. Die gehören zu unserer Entwicklung dazu, zu unserem Reifungswesen. Man erkennt man ist nicht allein, ich bin einfach nur gerade an diesen Punkt, den so viele andere Menschen bereits vor mir durchlebt haben.“

Ganz unerwartet treffen wir nach der nächsten Biegung wieder auf den Parkplatz. Einige neue Autos stehen hier, wieder andere sind bereits gefahren. Das Windspiel klingt noch immer zwischen den Bäumen. Sanft lässt sich sein Lied vom Wind davontragen. Gehalten indes wird es von den Kronen schiefer, starker Bäumchen.

INFO-Kasten

Dr. rer. pol. Jürgen Groß ist Steuerberater, Coach und Mediator. Nachdem ihm seine Mandaten immer wieder ihre Ängste und Sorgen berichteten, entschied er sich, erst eine Ausbildung zum psychologischen Berater zu machen, später kamen weitere Ausbildungen in der systemischer Aufstellungs- und Biografiearbeit hinzu. Er ist NLP Mastercoach und Trainer. Dr, Groß lebt und arbeitet in Melsungen – www.drgross.eu.


Text: „Im Auge des Sturmes herrscht Achtsamkeit“ - Verfasserin: Johanna Groß



Im Auge des Sturms herrscht Achtsamkeit


Die Gesamtausgabe der aktuellen StadtZeit 108 ist unter https://www.stadtzeit-kassel.de zu finden. Der Artikel befindet sich dort auf den Seiten 4 ff.




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