Der Funke in der Dunkelheit
Eine mediative, philosophische Betrachtung zur längsten Nacht
von Hans Jürgen Groß
Wenn die längste Nacht das Jahr umschließt und die Welt stillzustehen scheint, ereignet sich etwas Wunderbares: Gerade dort, wo die Finsternis am dichtesten ist, entzündet sich ein Funke. Klein, verletzlich, unscheinbar. Und doch trägt er die Kraft in sich, alles zu verwandeln.
Ich erinnere mich an den Adventskranz meiner Kindheit. Ein rot lackierter Holzständer mit sternförmigem Fuß, dessen Spitze in vier Quadranten geteilt war. Zwischen ihnen verliefen schmale Einkerbungen, in denen rote Bänder lagen, die den grünen Kranz mit seinen vier Kerzen trugen. Dazwischen kleine Fliegenpilze aus weichem Kunststoff, fast spielzeughaft. Der Kranz stand auf einem runden Deckchen mit Licht- und Weihnachtsmotiven. Meine Großmutter, die mit im Elternhaus lebte, entzündete jeden Sonntag eine weitere Kerze. Immer nur eine weitere. Niemals mehr.
Wie sie in den langen Dezemberabenden flackerten, während draußen die Dunkelheit näher rückte und die Fenster zu Spiegeln wurden. Neben der Tür der alte Ofen, aus dessen Öffnungen der Feuerschein sein unstetes Licht an die Decke warf. Zu Heiligabend gesellte sich das Licht der schmalen Kerzen am Weihnachtsbaum hinzu, gebrochen im Silber des Lamettas. Damals verstand ich nicht, warum gerade in der dunkelsten Zeit des Jahres so viele Lichter entzündet wurden. Aber ich spürte, dass diese Zeit eine andere war. Eine, die etwas verkündete, ohne es auszusprechen.
Heute, Jahre später, begreife ich: Es ging um ein Geheimnis, das älter ist als alle Worte. Um ein Zeichen für etwas, das sich in uns ereignet, wenn alte Schwere weicht. Hoffnung, die nicht von außen kommt, sondern im Innersten entsteht. Liebe, die nicht überreicht wird wie ein Geschenk, sondern wächst wie eine Flamme – leise, fast unmerklich und doch unaufhaltsam.
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| Bescherung unter dem Weihnachtsbaum – Anfang der 1970er Jahre |
Das Paradox der Gegensätze
Es gibt eine Grammatik des Lebens, die in keinem Lehrbuch steht. Die Dunkelheit ist nicht der Feind des Lichts – sie ist sein Nährboden. Erst im Schatten wird das Licht sichtbar. Sie ist die schützende Hülle, aus der Neues hervortreten kann.
Der Frost, der sich in kalten Winternächten an die Scheiben heftet, lässt uns nach Wärme verlangen. Und das Schweigen ist nicht die Abwesenheit des Wortes, sondern sein ursprünglicher Raum.
Ich denke an die Landschaften meiner Kindheit im tiefsten Winter. An die gefrorenen Felder, auf denen nichts mehr zu wachsen schien. An kahle Bäume, deren schwarze Äste sich gegen den grauen Himmel abzeichneten. Und doch regte sich unter dieser scheinbaren Leblosigkeit etwas. In der Erde, im Holz, im Innersten der Dinge wartete etwas auf seine Zeit. Die Kälte war kein Ende, sondern ein Übergang. Die Starre ist kein Tod, sondern eine andere Form von Leben.
Diese Polaritäten gleichen Quelle und Mündung desselben Stroms – sie bedingen einander. Das ist die Erfahrung jedes Winters, jeder Nacht, jeder Stille, die wir durchschreiten.
Die innere Geburt
Es ist kein Aufstand, kein Kampf. Es ist etwas viel Radikaleres: eine Einwilligung.
Wir glauben oft, wir müssten das Licht erzwingen. Doch wirkliche Verwandlung geschieht anders. Sie ereignet sich im Öffnen für das, was längst da ist. Im Empfangen statt im Fordern. Im Zulassen statt im Erobern.
Viele Traditionen sprechen von dieser inneren Geburt – von einem Erwachen durch Hingabe. Jenseits aller religiösen Begriffe ist es die Erfahrung, dass das Heilige nicht außerhalb liegt, sondern im eigenen Inneren als Funke lebt. Dass Liebe an die Stelle der Angst tritt. Frieden an die Stelle des Kampfes.
Ich erinnere mich an Zeiten der Leere in meinem eigenen Leben. An Monate, in denen nichts gelingen wollte, in denen jeder Morgen wie ein Warten war auf etwas, das nie kam. Damals erschien mir diese Zeit als Scheitern. Heute weiß ich: Es waren stille Räume der Vorbereitung. Der Boden musste sich bereiten.
Der Winter der Seele – diese Phasen der Kälte – sind kein Gefängnis, sondern ein Übergang. Die eigentliche Arbeit geschieht nicht im Widerstand, sondern im geduldigen Ausharren. In dieser Hingabe bereitet sich der Grund, aus dem zur rechten Zeit etwas Neues hervorbricht.
Im Alltag der Welt
Wenn ich das Prinzip der Polarität verstehe, begegne ich Schwierigkeiten anders. Sie sind keine Gegner mehr, sondern Schwellen. In Momenten der Krise – in Familien, Gemeinschaften oder im eigenen Inneren – kann ich aufhören, Schuldige zu suchen. Stattdessen entsteht ein Raum, in dem sich Lösungen aus der Krise selbst entfalten.
Das Fremde – der Nachbar, dessen Sprache ich nicht verstehe, die Idee, die meine Gewohnheiten stört, das Kind, das anders ist – wird nicht zur Bedrohung, sondern zur Schwelle.
In der Kreativität zeigt sich dies besonders. Die Blockade ist die Stille vor dem Wort, der Atemzug vor dem Ton. Schöpferkraft entsteht selten aus forciertem Wollen. Sie wächst aus dem Loslassen – aus einer Offenheit, in der etwas aus dem Unbewussten aufsteigen kann.
Und im persönlichen Leben: Die Annahme der eigenen Dunkelheit – der Ängste, Schwächen, ungeliebten Seiten – ist der Schoß des eigenen Lichts. Frieden entsteht nicht durch den Sieg über einen inneren Feind, sondern durch das Verstehen, dass alle Stimmen in mir nach Versöhnung verlangen.
Das geteilte Licht
Manchmal, in den frühen Morgenstunden des späten Dezembers, wenn die Nacht noch schwer über den Häusern liegt, sehe ich die ersten Lichter in den Fenstern aufscheinen. Eines nach dem anderen. Kleine Funken, die sich verbinden, ohne Plan, ohne Absprache – einfach da.
So ist es auch mit uns. Die tiefste Verwandlung geschieht nicht durch große Revolutionen, sondern durch die stille Summe unzähliger innerer Geburten. Jedes Mal, wenn ein Mensch aufhört zu kämpfen und beginnt einzuwilligen, wird ein Licht entzündet. Und wenn dieses Licht geteilt wird – durch Mitgefühl, eine mutige Entscheidung, ein offenes Wort –, entsteht aus vielen kleinen Flammen eine Wärme, die Gemeinschaft trägt.
Weihnachten erinnert daran, dass jeder Mensch Träger eines solchen Lichts ist. Und dass dieses Licht, verbunden mit anderen, die Dunkelheit erhellt.
Nachklang
Der rot lackierte Adventskranzständer existiert nicht mehr. Das runde Deckchen ist verschwunden. Das Haus meiner Eltern steht noch, doch das Leben entweicht ihm langsam. Die Felder meiner Kindheit sind überbaut, die gefrorenen Landschaften leben nur noch in der Erinnerung.
Aber der Funke, der damals an jenen langen Dezemberabenden entzündet wurde, lebt weiter. In mir. Und in jedem, der sich erinnert, dass die längste Nacht nicht das Ende ist, sondern ein Anfang.
Vielleicht ist das die tiefste Wahrheit: Das Heilige bricht nicht von außen ein. Es kehrt heim – in die verborgenste Kammer des Menschlichen. Als Funke. Als Versprechen an die unauflösbare Einheit von allem, was ist.
Epilog: Das eine Licht in vielen Farben
Wenn wir innehalten und lauschen, zeigt sich: Dieses Geheimnis gehört keiner Tradition allein.
Zur Zeit des christlichen Weihnachtsfestes entzünden Juden die Lichter des Chanukka-Leuchters – acht Nächte lang, eine Kerze nach der anderen. Zur selben dunklen Jahreszeit erinnern sich Hindus an Diwali, wenn Millionen Flammen in der Nacht verkünden: Das Licht lebt in uns selbst. Im Buddhismus ist es die Erfahrung eines inneren Lichts, das immer schon da war, verdeckt nur von den Schleiern des Alltags. Die Sufis sprechen vom göttlichen Funken im Herzen. Rumi schrieb: „Es gibt ein Licht, das in deiner Brust brennt.“
Und lange bevor all diese Traditionen entstanden, feierten Menschen in der dunkelsten Nacht die Wintersonnenwende. In den Steinen von Stonehenge, in den Feuern der Kelten, in den Tempeln der Römer hielten sie den Wendepunkt fest: die Wiedergeburt des Lichts aus dem tiefsten Dunkel.
Die Namen wechseln. Die Bilder ändern sich. Doch das Wesentliche bleibt: Licht wird aus Dunkelheit geboren. Hoffnung wächst aus der Stille. Das Heilige zeigt sich nicht als Fremdes, sondern als das Innerste von allem.
Hans Jürgen Groß entfaltet in seiner meditativen und philosophischen Betrachtung „Der Funke in der Dunkelheit“ die Symbolik der längsten Nacht des Jahres. Ausgehend von Kindheitserinnerungen an Adventskranz und Weihnachtsbaum beschreibt er, wie Licht und Dunkelheit keine Gegensätze, sondern einander bedingende Kräfte sind. Die Dunkelheit erscheint nicht als Feind, sondern als Nährboden für das Licht, das sich im Inneren des Menschen entzündet.
Die Reflexion führt von persönlichen Erinnerungen über die Erfahrung von Winterlandschaften und inneren Krisen hin zu einer universellen Botschaft: Transformation geschieht nicht durch Kampf, sondern durch Hingabe und Einwilligung. Der „Funke“ steht für Hoffnung, Liebe und Frieden, die aus der Stille und aus der Annahme der eigenen Schatten wachsen.
Im Alltag zeigt sich dieses Prinzip in Krisen, in Begegnungen mit dem Fremden und in kreativen Prozessen. Das geteilte Licht vieler kleiner Funken wird zum Bild für Gemeinschaft und Heilung. Groß verknüpft die christliche Weihnachtsbotschaft mit Chanukka, Diwali, buddhistischen und sufischen Traditionen sowie der alten Feier der Wintersonnenwende. So wird deutlich: Das Licht ist ein universales Symbol für die innere Geburt und die Wiederkehr des Heiligen in jedem Menschen.
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