Das Rätsel aus dem Quelle-Schrank
Vrrrrrrrrrr — und jedes Mal dieser überraschende Moment, was mir nun auf dem kleinen Bildschirm des Dia-Scanners erscheint.
Seit Jahren sitze ich an meinen alten Dias wie ein spätberufener Archäologe des Familiengedächtnisses. Brückenbauer zwischen verblasster Vergangenheit und pixeliger Gegenwart. Spätboomer-Archäologie in Hausschuhen. Andere sammeln Briefmarken, ich sammle Überbleibsel meiner Herkunft – Pixel für Pixel. Es ist mein kleines Herbst- und Winterritual: Wenn draußen die Kälte in die Fensterfugen kriecht, hole ich die Sonne von 1974 aus dem Diakasten zurück.
Mittlerweile bin ich beim Material meines Vaters angekommen, das jahrzehntelang in einem jener legendär-soliden Wohnzimmerschränke schlummerte. Made in GDR – zumindest sieht er so aus, vermutlich bestellt aus einem Quelle- oder Neckermann-Katalog. Die genaue Herkunft bleibt ein Rätsel, genau wie manche seiner Schätze, die er darin bewahrte.
Vrrrrrrrrrrrrrrrrrr – und dann: dieses Foto, das mich zugleich lachen und leicht schaudern ließ. Das Wohnzimmer meiner Kindheit, unverkennbar: der Vorhang wie ein blauer Ozean mit goldenen Algen. Und davor – tja. Vier Gestalten. Clowesabend-Ästhetik in Reinkultur. Die große Figur trägt meine alte Nikolausmaske – aber das bin definitiv nicht ich. Die kleineren Gestalten tragen Knecht-Ruprecht-Masken, komplett mit diesem unverwechselbaren Pappe-und-Watte-Geruch, der sich selbst in der Erinnerung noch in die Nase bohrt.
Doch wer sind diese Menschen? Mein Verdacht: Meine Mutter, maskiert, hat bettelnde Clowes-Kinder ins Wohnzimmer geholt, damit mein Vater sie fotografieren konnte. Aber warum? War das eine Art anthropologische Feldstudie? Ein sozialromantischer Impuls? Oder einfach nur nordhessische Exzentrik?
Es ergibt keine Logik. Aber genau das macht dieses Bild so faszinierend. Was ich hier auf dem Bildschirm sehe, ist ein kulturelles Zeugnis regionaler Riten. Während die meisten anderen Dias nur Landschaften zeigen – Menschen als Staffage, gruselig zeitlos in ihrer Mode, die auch gestern hätte entstanden sein können –, ist dieses Bild anders. Es legt keine Melancholie auf das sonore Summen des Scanners, sondern verbindet sich mit fragendem, überraschtem Staunen.
Der Hintergrund ist klarer als die Personen:
„Ich bin der kleine Dicke, ich wünsche Euch viel Glügge, ich wünsche Euch ’n langes Lewen, müsst mir auch was Schönes gewen."
Jedes Jahr am 6. Dezember zogen wir durch die frühe Dunkelheit, klingelten an Türen, besuchten Geschäfte, sammelten Plätzchen und Süßigkeiten. Die Pappmaske mit Wattebart, befestigt mit einem Gummiband, dessen eindeutiger Geruch sich bis heute in meine Nase brennt. Und der Geschmack der Watte, die beim Sprechen in den Mund reichte – eine sensorische Zeitreise, die keine Madeleine der Welt toppen kann.
Der Clowesabend war unser Halloween, lange bevor Halloween zu uns kam. Weihnachtsmärkte, wie wir sie heute kennen, gab es kaum. Der 6. Dezember war der wahre Einstieg in die Weihnachtszeit, herbeigesehnt von allen Kindern.
Und nun sitze ich hier mit diesem rätselhaften Foto: vier maskierte Gestalten vor einem 70er-Jahre-Vorhang. Meine Vergangenheit, fremd wie ein altes Märchen. Die Frage bleibt: Wer zum Teufel sind diese Leute in meinem Elternhaus?
Vielleicht ist das die eigentliche Magie alter Fotos. Sie bewahren nicht nur Momente – sie schaffen neue Rätsel. Und während der Scanner weiter summt und der nächste Dia-Rahmen durchleuchtet wird, denke ich: Manchmal ist es die Verwirrung, die ein Bild wertvoll macht. Nicht die Antworten.
Post Scriptum: Falls jemand meine Mutter in einer Nikolausmaske im Dezember der 70er oder 80er Jahre gesehen hat – bitte melden. Ich zahle in Clowesabend-Süßigkeiten.
© 2025 – Hans Jürgen Groß
Siehe auch: https://t1p.de/Clowesabend
Zusammenfassung
Ein Dia-Scanner öffnet das Familiengedächtnis: Zwischen Quelle-Schrank und 70er-Jahre-Vorhang tauchen rätselhafte Maskengestalten auf. Der Clowesabend, nordhessische Nikolausrituale und der unverwechselbare Geruch von Pappmasken mit Wattebart werden zu einer Zeitreise in Kindheit und Kultur. Alte Fotos verwandeln sich in Rätsel, die mehr Fragen stellen als Antworten geben – und gerade darin ihren Zauber entfalten.
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