Gabriel und die vergessene Stadt - ein Rückblick auf die Melsunger Jahre des Künstlers Edwin Moes
Georges Didi-Huberman (1992)
Ein Essay von Hans Jürgen Groß
Wenn ich heute davon spreche, tue ich es mit einem melancholischen Gefühl. Ich sehe den Menschen hinter dem Künstler, der alles riskierte, weil er glaubte, dass nur das Ganze zählt: Leben, Körper, Schmerz, Wahrheit – alles eins, alles Kunst. Einen Menschen, der an dieser Ganzheit fast zerbrach.
Sein „Haus Desade“ war nie bloß eine Installation. Es war sein Innerstes – offengelegt, verletzlich, provozierend. Ein Ort, an dem das Private zum öffentlichen Ritual wurde. Wer diesen Raum betrat, trat in das Innere einer sensiblen, verwundeten Seele, ohne deren Sprache zu verstehen – und doch war ihr Ruf laut und deutlich vernehmbar.
Ich war damals „Raphael“, sein Begleiter, Zeuge, manchmal Heiler, manchmal Projektionsfläche seines ungehörten Rufes. Zwischen uns floss etwas, das jenseits der Worte lag – ein stilles Wissen, dass wir beide im Grunde dieselbe Frage verfolgten: Wie gibt man den Vergessenen, den Ungehörten, den Vernachlässigten Form, Existenz, Stimme? Wie zeigt man die verdrängten Teile einer Wahrheit, achtsam, sanft, ohne sie zu zerstören?
„Gabriels Traum“, unser gemeinsames Projekt, war der Versuch, diese Frage 136 Tage lang öffentlich zu leben. Wir dokumentierten, reflektierten, provozierten – durch mystische Zahlenspiele, Performances, offene Fragen – und warteten auf ein Echo, das ausblieb. Vielleicht war das Schweigen der Stadt die eigentliche Antwort.
Die Menschen in Melsungen reagierten, wie Menschen reagieren, wenn jemand das Gewohnte infrage stellt: mit Spott, Ablehnung, manchmal mit stiller Bewunderung. Ich verurteile niemanden. Kunst, die an das Existenzielle rührt, ruft fast immer Angst hervor. Edwin hatte die Gabe – oder den Fluch –, diese Angst sichtbar zu machen. Und das mochte man ihm nicht verzeihen.
Als er schließlich ging, blieb nicht nur Leere zurück, sondern auch eine Art seelisches Nachbeben. Sein Besitz wurde vernichtet, als wäre es nötig, die Spuren seines Daseins auszulöschen. Vielleicht war das der letzte, unbeabsichtigte Akt seiner Melsunger Performance: die vollständige Entmaterialisierung seiner Kunst.
Was bleibt, sind Erinnerungen, Filmfragmente, Fotos, Aufzeichnungen – und das, was sich nicht mehr greifen lässt: die Energie eines Menschen, der sein Leben in eine Metapher verwandelte.
Doch wenn ich heute mit ihm telefoniere, spüre ich, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende geschrieben ist. Vieles wurde verdrängt, blieb unsagbar. Mehrmals stand die Überlegung im Raum, zurückzukehren – noch einmal an diesem Ort zu wirken, zu zeigen, was geblieben ist.
Doch etwas in ihm – und auch in mir – zögert. Man kann nicht zweimal denselben Schmerz betreten. Und doch: Vielleicht braucht es gerade dieses Zögern, um die Wahrheit reifen zu lassen. Vielleicht liegt die Kraft nicht im Wiederholen, sondern auf der Bühne des Erinnerns.
Und während wir sprechen, weht der Wind der Zeit über die alten Schauplätze hinweg. Er glättet die Spuren im Sand der Erinnerung, verwischt Namen, Geschichten, Gesten. In Melsungen erinnert heute kaum noch etwas an Gabriel. Nur wenige tragen ihn noch im Herzen. Auf der nüchternen Seite seines Künstlerporträts bleibt von jener Zeit ein einziger Satz – wie ein fernes Echo, das man nur hört, wenn man still wird.
Doch vielleicht ist gerade dieses Schweigen Teil seines Werkes: das Verschwinden als letzte Form der Gegenwart.
Gabriel, der Verkünder, und Raphael, der Heiler – zwei Gestalten, die ein Stück ihrer Zeit gemeinsam gingen. Einer Zeit, in der wir glaubten, Kunst könne verändern, könne retten. Heute weiß ich: Sie kann nicht retten. Aber sie kann sichtbar machen – so wie das Licht die Schatten sichtbar macht. Und diese Erkenntnis besänftigt.
Wenn ich an ihn denke, sehe ich nicht den Provokateur, als den ihn viele sahen, sondern einen Pilger zwischen den Welten, der den Mut hatte, nackt zu gehen – ohne Gewissheit, dass ihn jemand versteht. Sein Werk ist ein Schrei nach Sinn – und zugleich ein stilles Gebet.
Vielleicht wird eines Tages jemand diese Melsunger Jahre neu betrachten. Vielleicht erkennt man dann, dass hier etwas geschah, das größer war als der Ort selbst: die Geschichte eines Menschen, der sich selbst zum Kunstwerk machte – und damit die Grenze zwischen Leben und Legende auflöste.
Er war kein Rebell im eigentlichen Sinne, sondern ein Suchender, der schenkte, wo andere nahmen – der sich verausgabte in Gesten des Gebens, während um ihn die Welt rechnete. Seine Kunst war nie Besitz, sondern Hingabe – und gerade darin lag ihre stille Provokation.
Bis dahin bleibt unsere Aufgabe, die Erinnerung zu hüten – als Ahnung einer Welt, die erst ganz wird, wenn alle, die verloren schienen, wieder Teil ihres Klanges sind.
© Text 2025 | Fotos 2014 – Hans Jürgen Groß
Anmerkung
Heute erinnert in Melsungen kaum noch etwas an jene Zeit. Nur wenige tragen ihn noch im Herzen – jenen, der sich selbst in die Kunst hinein verschenkte. Auf der professionell kuratierten Künstlerseite bleibt von seiner Melsunger Epoche nur ein einziger Satz – ein blasser Hinweis auf das, was einst der Ursprung seines späteren Werkes war:
„Gabriel ist eine Figur, die Edwin W. Moes seit 2009 entwickelt. Sie ist aus dem Projekt Vergessene Räume in Melsungen hervorgegangen, das sich mit Erinnerungskultur und biografischer Spurensuche beschäftigte.“
Doch wer damals dabei war, weiß: Hier geschah etwas, das größer war als der Ort selbst – ein Mensch verwandelte sein Leben in Kunst und löste darin die Grenze zwischen Sein und Ausdruck, Leben und Legende.
Die Fotos zeigen Edwin, alias Gabriel, vor seiner Abreise am Brückenhaus in Melsungen, sowie die letzten Aufnahmen der sich dort befindlichen Artefakte vor ihrer Vernichtung.
Bonusmaterial (zur weiteren Vertiefung):
die Melsunger Jahre 2008-2014
Stand 31.10.2025
- Gabriel und die vergessene Stadt: ein Rückblick auf die Melsunger Jahre 2009–14
- Eine Reise der Inspiration und Kreativität: Die Geschichte von Gabriel und Raphael
- Erinnerung: Vergebung – ein bewegender Filmrückblick auf Edwin Moes' Performance
- Erinnerung: der "vergessene Raum" auf dem Melsunger Weihnachtsmarkt 
- das Haus Desade (Erinnerung an die Melsunger Zeit des Künstlers Edwin Moes)
- Gabriel (persönliche Portraits des Künstlers aus der Zeit 2010–2014)
- YouTube-Playlist Edwin Moes/Gabriel (Die Videos)
- Gabriels Traum – Blog (ein interaktives Kunstprojekt aus dem Jahr 2011)
Zusammenfassung:
In einer kleinen Stadt, zwischen Vergessen und Erinnerung, begegnen sich zwei Menschen – Gabriel, der Künstler, und Raphael, der Zeuge. Ihre Geschichte erzählt vom Versuch, das Leben selbst zur Kunst zu machen, vom Schmerz des Sehens und der Sehnsucht nach einer Welt, die alle einschließt.
„Gabriel und die vergessene Stadt“ ist ein stiller Nachruf auf einen, der zu viel fühlte und zu radikal schenkte. Doch zugleich ist es ein Zeugnis: für die Kraft der Hingabe, für die Schönheit des Erinnerns und für die Ahnung einer Ganzheit, in der kein Mensch mehr verloren bleibt.
Dieser Essay ist keine Biografie, sondern eine Spurensuche – eine Einladung, das Unausgesprochene zwischen den Worten zu hören. Denn vielleicht ist Erinnerung selbst die zarteste Form von Kunst.
Stichworte:
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