Translate

Wie Weenen unterging und Weener entstand: Aufstieg und Fall einer Stadt zwischen Legende und Wirklichkeit

"Ein Phönix aus Gold erhebt sich aus der Asche,
doch vergisst er seine Wurzeln,
wird er erneut verzehrt."

Weisheit der Nomaden in der Zeit



 



Wenn ich auf Reisen gehe, suche ich mir häufig Orte aus, die weniger bekannt sind, jedoch eine eigene Art von Schönheit ausstrahlen. Orte, die etwas zu erzählen haben.

So gelangte ich Anfang Oktober 2024 in die kleine Stadt Weener. Weener liegt im Rheiderland, einer Region an der niederländischen Grenze, noch zu Ostfriesland gehörend, nahe dem Münsterland. Weener selbst ist eine alte Stadt, die einzige im Rheiderland, die im Schatten von Leer unmittelbar an der Ems liegt.

Wenn man den Ort durchstreift, fallen neben dem alten Hafen zahlreiche alte Häuser auf, die von dem Reichtum der Stadt berichten. Gleichzeitig erzählt der bröckelnde Putz an den Gebäuden von den Schattenseiten, welche die Stadt erleben durfte. Sinnbildlich spiegelt sich das Auf und Ab der kleinen Stadt in ihrem Stadtwappen wider, das einen Phönix zeigt. Leben zwischen den Extremen: Entstehen und in seiner größten Schönheit erstrahlen, bevor all dies in Flammen aufgeht und zur Asche verfällt. Nicht jedoch dem Untergang geweiht, sondern aus der Asche neu entstehend.

Bei meinen Besuchen an solchen Orten gehe ich immer auf die Suche nach alten Geschichten, Legenden, die etwas über die Charakteristika des Ortes aussagen. In Weener stieß ich auf eine alte plattdeutsche Geschichte, die den Untergang der vermögenden Stadt „Weenen“ beschreibt, die zum Namensgeber der neu entstandenen Stadt „Weener“ wurde. Diese Geschichte, die ich in abgewandelter, eigener Form hier wiedergeben möchte, nimmt das Thema des Stadtwappens ebenfalls auf und berichtet von dem Untergang des alten, dekadenten Weenen, in dessen Nähe das heutige Weener hervorging.




Das Lied des weißen Vogels: oder der Untergang von Weenen
- eine alte Sage, neu erzählt

In einer Welt, gespalten in Licht und Schatten, in der die Extreme einander unaufhörlich umtanzen, lag einst die Stadt Weenen, ein Ort schillernder Pracht, gefangen in einem Strudel der Gegensätze.

Reichtum und Überfluss waren hier allgegenwärtig, die Menschen trunken vom süßen Gift des Wohlstands. Doch hinter den glänzenden Fassaden, im Herzen der Stadt, brodelte ein Strudel der Ignoranz, Dekadenz und der Gleichgültigkeit.

Jeden Tag wurde in Saus und Braus gelebt, nichts war den Leuten gut genug. Die Reichen verlangten sogar, dass man die Stufen zum Haus statt mit Sand mit Mehl bestreute, damit ihre Gäste beim Betreten nicht ausrutschten und keine schmutzigen Schuhe bekamen. Bettler und Arme wurden der Stadt verwiesen, ohne dass es jemand bemerkte.

Besonders am Sonntag war das Treiben unerträglich. Statt die Kirche aufzusuchen, feierten die Einwohner ausgelassen in den Wirtshäusern, als ob der Tag nie verging.

Die Schöpfung schaute dem Treiben mit kritischen Augen zu. Im Wechsel der Antipoden – Osten und Westen, Sommer und Winter – atmete sie ein und wieder aus. In der Zeit zwischen Ein- und Ausatmen, in der inneren Stille, verbarg sie jene Mahnungen, die die Menschen bei sich behalten sollten. Doch diese änderten ihr Verhalten nicht. Zum Zeichen einer Umkehr sendete sie einen Boten, mit dem Auftrag, die Einwohner zu warnen. 

Es war an einem Sommermorgen, als plötzlich ein schneeweißer Vogel, einem Engel gleich, heranflog und sich auf die Kanzel der Kirche setzte. Der Vogel sang ein wunderbares Lied, wie es nie zuvor ein Vogel gesungen hatte. Ein Lied, das lautete: „Weenen, Weenen soll vergehen, wird in sieben Jahren nicht mehr stehen!“

Oh, wie das Volk darüber lachte und rief: „Ach, das wird schon gut gehen“, und lebte weiter wie bisher. Doch das Leben in Weenen wurde immer trügerischer und dekadenter. Es dauerte siebenundsiebzig Monde, bis der Vogel wieder in der Kirche erschien und sang: „Weenen, Weenen soll vergehen, soll keine sieben Monate mehr stehen!“

Doch die Menschen hörten nicht auf das Lied. Belustigt riefen sie: „Ach, das wird schon gut gehen“, und lebten weiter, noch ausschweifender als zuvor. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der Vogel erneut erschien und sein Klagelied erklang: „Weenen, Weenen soll vergehen, wird in sieben Tagen nicht mehr stehen!“ Doch niemand vernahm das Lied des Vogels. Allein saß er auf der Kanzel einer menschenleeren Kirche. Man hatte die Türen der Kirche fest verschlossen, sodass niemand Einlass fand.

Es hätte noch Zeit für eine Umkehr gegeben. Aber niemand wollte das Zeichen wahrnehmen und verstehen. Und so geschah es, dass der siebte Tag anbrach, ein Tag so herrlich wie nie zuvor. In allen Dörfern rundherum läuteten die Glocken. Doch in Weenen war das Glockenläuten nunmehr verboten worden, damit nichts die ausgelassenen Feiern stören sollte.

Da senkte sich plötzlich Dunkelheit über das Land, ein Sturm brach los, begleitet von heftigen Donnerschlägen und grellen Blitzen. Die Kirchenglocken erklangen dröhnend in der Finsternis. Als sich der Himmel wieder lichtete und die Wolken sich verzogen, schien die Sonne auf ein weites Wasser, das die einst so reiche Stadt Weenen tief in sich verborgen hielt.

Im Augenblick des Untergangs, als die Glocken der Stadt zum letzten Mal erklangen, erinnerten sich einige Alte an das vergessene Gesetz des Universums, von dem sie in ihrer Jugend gehört hatten: Aus jedem Chaos erblüht eine neue Ordnung. 

Der Untergang der Stadt, geboren aus der eigenen Unfähigkeit zur Balance, war zugleich die Geburt einer neuen Epoche, eines neuen Gleichgewichts. Die Überlebenden der Katastrophe gründeten unweit der versunkenen Stadt eine neue und nannten diese, als Mahnung an das Geschehene "Weener". Dort, wo sich heute das Naturschutzgebiet „Püttenbollen“ erstreckt, soll die große Stadt „Weenen“ gelegen haben.

Wanderer, die in stillen Sommernächten durch dieses Gebiet streifen, berichten, die Glocken des alten Weenen läuten gehört zu haben, und ein alter Kuhhirte soll einmal mit seinem Hirtenstock die Spitze des Kirchturms im Wasser berührt haben. Im Laufe der Jahrhunderte ist das Wasser seicht geworden und es sind nur noch Strudel und Gräben von ihm zu sehen. In den umliegenden Sümpfen gedeihen Pflanzen, die im Sonnenlicht so schimmern, als lägen dort goldene Schätze verborgen.

Die Geschichte der versunkenen Stadt ist eine Mahnung an alle, die ihre Ohren und Augen vor den Lektionen der Vergangenheit und den Zeichen der Zeit verschließen.

Denn auch wir leben in einer Welt der Extreme, in der die Kräfte von Licht und Schatten unaufhörlich um die Herrschaft ringen.

Doch wir haben noch die Wahl. Wir können den mittleren Weg zwischen diesen Polen wählen, den Pfad der Achtsamkeit, der Dankbarkeit, des Mitgefühls und des friedlichen Miteinanders. Wir können die Warnungen erkennen, die uns das Leben sendet, und unsere Handlungen an den Prinzipien der Balance und der Harmonie ausrichten. Nur so können wir dem Strudel des Chaos entkommen und eine Zukunft gestalten, in der die Stadt am Rande des Abgrunds nur noch eine erinnernde Fabel ist.


Weiterführende Links (Fotogalerien):



Text, Audio und Fotos: © 2024 - Hans Jürgen Groß


* * *

Die Legende im Original:

Die plattdeutsche Sage von der untergegangenen Stadt Weenen

In olle Tieden lagg dar, war nu de „Püttenbollen“ up de Mälanne sünd, de groote Stadt „Weenen“. De Inwoners wassen schattrieke Lüh. Sie haben alle in Overdad unwissend vor Weelde gesehen, wo sie mürrisch ausfielen. Elke Dagg wurr in Suus un Bruus verswirt, Nikks war de Lüh goed genugg. Ich weiß auch nicht, dass die Frau von Sand Mehl verlangt, dass ihre Gäste ein Zimmer betreten, und dass sie damit nichts zu tun haben. Bin Slimmsten Gung't Sönndaggs dr ihr. In der Zeit, als Menske mehr sagte, saßen die Menschen in Weertshusen zu Hause, und im nächsten Jahr feierten sie, bis die Woche vorbei war, und dann kamen sie nicht mehr an. Das bedeutet, dass Gott nicht länger leben kann. Man in sien groote Goedheid lät hä hör noch erster drämal warschauen. Es war in Sömmersönndaggsmörgen, ich kwamm mitäns und snejwitte Vogel anflägen ein Settde Sükk up the Preekstoel in the Karke. Dat Vogelke sung ein sünnerbar Liedje, as nooit än Vogel sungen harr. Ein Lied, das heißt: „Weenen, Weenen sall vergahn, sall gien soven söven Jahr more stahn!“ O, was laggde dat Volk darover un rääp: „Och, dat sall wall goed gahn“, un leevde in Weelde wieder. Das war noch nicht so, ein Jahr vor dem nächsten Jahr, Nikks geboren. Man dat Leeven in Weenen würde alles schlanker und schöner machen. In diesem Jahr war ein Jahr vergangen, als Vogelke in der Kirche war, und er sang: „Weenen, Weenen sall vergahn, sall gien söven Maand mehr stahn!“ Man hört sä up dat Lied? Unweer räpen sä: „Och, dat sall wall goed gahn“, un leevden wieder, noch düller as bett nu. Sess Maand und dre Weeke wollten wissen, dass Vogelke noch nicht einmal gesungen hat: „Weenen, Weenen sall vergahn, sall gien söven Söven Dage more stahn!“ Noch war't Tied, sükk toe beetern. Man deden sä't ?? De sövende Dagg bach an, so heerelk, wie dar nooit än west war. In allen Dörpen rund um die Lüdden de Klokken. Als das Volk auf Karke kam, wollte er auch, dass Klokkenlüden harren sä verboden, dass sie nicht auf Karke kamen. Mit äns wur dat balkedüster, 't fung an to grummeln un blitzen, un än störm hulde as nooit, un - as the Hemel weer upklaarde, scheen de läve Sünne up än groot Water, un van Weenen was nikks more to sähn. In stillen Sömmernachten klingelten noch die Klokken der Weenen, und der alte Koehedder hinauf zur Mälanne sall änmal mit ihrem Pulstock hinauf zur Toorenspitze stött hebben. In den letzten Jahren ist das Wasser dicht geworden, Blut und Stükkje sind noch da. Dat sünd de Kolken. In den Slooden umtoe wasst än Plante mit duumdikke Wuttels. Die Mehlpekken sind unauffällig, da das Mehl nicht mehr vorhanden ist, und die Sonne liegt in den Händen, wenn Sie einen Raum betreten, den Sie brauchen. Na olle Geleggden sall Wäner van Weenen sien Nam hebben. - aufgezeichnet von Anton Koolmann.

Quelle
https://tinyurl.com/22vmkcvm


* * *


Google Gemini interpretiert wie folgt:

Analyse und Interpretation:

Der Text erzählt die Geschichte der versunkenen Stadt Weener, die als Metapher für den menschlichen Umgang mit Reichtum, Macht und Vergänglichkeit dient. Die Analyse kann in folgende Aspekte unterteilt werden:

Thematik:
  • Vergänglichkeit: Das zentrale Thema ist die Vergänglichkeit von Reichtum und Macht. Die Stadt Weener, einst prächtig und wohlhabend, versinkt aufgrund der Dekadenz ihrer Bewohner.
  • Sünde und Strafe: Die Geschichte weist biblische Züge auf. Die Bewohner werden für ihre Sünden bestraft, und die Natur, personifiziert durch den Vogel, übernimmt die Rolle eines warnenden Boten.
  • Zyklus von Leben und Tod: Der Phönix im Stadtwappen symbolisiert den ewigen Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt. Die untergegangene Stadt wird zur Grundlage für eine neue Siedlung.
  • Menschliche Natur: Der Text reflektiert die menschliche Natur mit ihren Schwächen wie Gier, Stolz und Gleichgültigkeit. Gleichzeitig zeigt er die Fähigkeit zur Erneuerung und zum Lernen aus Fehlern.
Stilistische Mittel:
  • Metaphern und Symbole: Der Text ist reich an Metaphern und Symbolen, wie der Phönix, der Vogel als Boten und das Wasser als Symbol der Vergänglichkeit.
  • Kontraste: Die Gegensätze zwischen Reichtum und Armut, Leben und Tod, Gut und Böse schaffen eine dramatische Spannung.
  • Spannungsaufbau: Die Geschichte wird in einer dramatischen Erzählweise präsentiert, die den Leser fesselt.
  • Plattdeutsche Elemente: Die Erwähnung der plattdeutschen Geschichte verleiht dem Text eine regionale Note und verankert ihn in der lokalen Tradition.
Interpretation:

Der Text lädt zu einer mehrschichtigen Interpretation ein:
  • Literarische Ebene: Als Erzählung ist die Geschichte fesselnd und unterhaltsam. Sie bedient archetypische Motive und bedient sich literarischer Stilmittel.
  • Historische Ebene: Die Geschichte ist an historische Ereignisse angelehnt und spiegelt die Entwicklung von Städten und Gesellschaften wider.
  • Philosophische Ebene: Der Text wirft Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Verantwortung des Einzelnen und der Beziehung zwischen Mensch und Natur auf.
Fazit:

Der Text über die versunkene Stadt Weener ist eine vielschichtige Erzählung, die sowohl auf literarischer als auch auf philosophischer Ebene überzeugt. Sie lädt den Leser ein, über die eigene Rolle in der Gesellschaft und die Bedeutung von Werten wie Bescheidenheit, Mitgefühl und Nachhaltigkeit nachzudenken. Die Geschichte dient als Mahnung, die Zeichen der Zeit zu erkennen und Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.




Zusammenfassung:

Die Legende von Weenen erzählt von einer prachtvollen Stadt, die durch Überfluss und Ignoranz ihrem Untergang entgegengeht. Als die Schöpfung den Menschen mehrfach mit einem geheimnisvollen Vogel und seinen warnenden Liedern zur Umkehr mahnt, ignoriert sie die Zeichen und feiert weiter. Erst als ein gewaltiger Sturm die Stadt unter Wasser begräbt, erkennt man zu spät die Lektionen von Achtsamkeit und Balance. Die Überlebenden gründen eine neue Stadt und nennen diese als Mahnung an das Verlorene Weener.
Diese Geschichte erinnert uns daran, die Warnungen der Natur und die Zeichen der Zeit zu beachten, um eine harmonische Zukunft zu sichern.

* * *

Stichworte:

Weener, Legende, Stadt, Untergang, Neugründung, Rheiderland, Wiedergeburt, Reichtum, Dekadenz, Moral, Vergänglichkeit, Phönix, Ostfriesland, Geschichte. 




Beliebte Posts