Translate

Eine unerwartete Begegnung auf dem Friedhof, die mich zum Nachsinnen anregte


Es war Mitte Januar, und die frostige Luft hing schwer über der alten Kulturstadt Weimar, als wir uns auf unserer einwöchigen Entdeckungstour auf den Weg machten. Unser Ziel war der historische Friedhof, der die Gräber zahlreicher Persönlichkeiten beherbergt. Im Zentrum des Friedhofes befindet sich die Fürstengruft, welche als die letzte Ruhestätte der Fürstenfamilie dient, jedoch auch die Sarkophage von Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller beherbergt.

Baulich an der Fürstengruft anschließend befindet sich eine kleine russisch-orthodoxe Kirche, die auch unterirdisch mit der Gruft verbunden sein soll. Hierhin führte uns unser Rundgang über den Friedhof zum Abschluss. (1)

Ein Schild an der Tür verkündete, dass die Kirche geöffnet war. Vor der kleinen Kirche stehend, öffneten wir die Tür und traten in einen kleinen, dunklen Raum ein. Unsere Augen benötigten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Eine dunkel gekleidete, ältere Frau mit Pelzmütze stand dort, als ob sie gerade gebetet hätte. War sie ein Gast oder eine Art Aufpasserin? Ihre Anwesenheit verlieh dem Raum eine besondere Atmosphäre.

Wir versuchten, den Innenraum mit unseren Augen zu erfassen, die Wände waren vollgestopft mit Bildern und Gegenständen. Ein Geruch von Weihrauch hing in der Luft. Meine Partnerin wies mich auf ein Schild hin, das das Fotografieren untersagte.

Plötzlich näherte sich die Frau mir von hinten und sprach mich an – zuerst auf Russisch, dann in gebrochenem Deutsch. Sie forderte mich auf, meine Mütze abzunehmen, und ich erinnerte mich an diese Gepflogenheit aus vergangenen Zeiten.

Als sie meinen Fotoapparat bemerkte, deutete sie auf ein Stück Papier auf einer Bank und erklärte, dass ich es fotografieren solle. Ich war überrascht, widersprach dies doch der Botschaft auf dem Schild. Die Frau ergänzte, dass jedes Foto 1 € kosten würde, doch das Papier müsse ich fotografieren, ohne dass hierfür etwas zu zahlen wäre.

Das Papier entpuppte sich als ein biblischer Text, der auf Russisch und Deutsch verfasst war. Es sprach davon, dass die Menschen Gott nicht wahrnehmen, von seiner unendlichen Liebe und der Notwendigkeit, an ihn zu glauben. Die Frau insistierte, dass ich es fotografieren solle, doch ich lehnte höflich ab.

Der Impuls, den Raum zu verlassen, wurde stärker. Durch einen Blickkontakt mit meiner Partnerin signalisierte ich, dass wir gehen sollten. Doch bevor wir den Raum verließen, wandte sich die Frau an meine Partnerin. Sie sprach diese als “Mädchen” an begann, sie zu befragen.

Sie fragt, ob sie christlich sei, einer Kirche angehöre. Meine Partnerin verneinte dies und versucht zu erklären, dass es für sie wichtiger sei zu glauben, als einer bestimmten Konfession anzugehören. Diese Erklärung wurde von der Frau jedoch nicht wahrgenommen, stattdessen versuchte sie, zu missionieren. Sie betonte die Bedeutung des Lesens der Apostel und erwähnte mit Nachdruck, dass Jesus sechs Stunden am Kreuz gelitten habe, was sie durch das Ausbreiten der Arme verdeutlichte. Sie erklärte, dass Jesus dieses Leid für uns auf sich genommen hat, damit wir an ihn glauben. Sie betonte, dass sie dieses Leid nicht einmal für ihre Feinde wünscht und dass nur in Jesus Christus Erlösung zu finden ist, nicht im Buddhismus oder im Islam

Die Frau setzte ihre Befragung fort und brachte meine Partnerin dazu zu erklären, dass sie katholisch erzogen und getauft wurde, jedoch der Institution Kirche nicht folgen könne. Die Frau erklärte, dass durch die Taufe noch Hoffnung für die Seele bestehe, und entließ uns schließlich nach draußen auf den Friedhof.

Wir waren beide erleichtert, dass diese Begegnung zu Ende war. Wir sprachen noch lange darüber, was wir erlebt hatten.

Am nächsten Tag erfuhr ich durch Zufall noch etwas mehr über diese ungewöhnliche Frau. Ich kam mit einer Mitarbeiterin im Goethe-Museum ins Gespräch. Ihre Ausführungen erstreckten sich auch auf die letzte Ruhestätte Goethes. Sie fragte mich, ob ich bereits auf dem alten Friedhof gewesen sei, auch die kleine Kirche besucht hätte. Sie kannte auch die Frau, jedoch nicht als Deutsch sprechend. In ihren Begegnungen hatte die Frau stets russische Wörter von sich gegeben, und sie habe ihr Frühstück und sogar ihre Bananen mehrmals gesegnet. Die Mitarbeiterin zeigte Missbilligung gegen dieses aus ihrer Sicht grenzverletzende Verhalten, zeigte aber auch Mitgefühl für die Frau, die anscheinend ihren Dienst ehrenamtlich in diesem kleinen Raum verrichtete.

In der Folgezeit habe ich oft über diese Begegnung nachgedacht. Mir kamen Gedanken an das Leid der Kreuzigung Jesu. An die Schmerzen, die er erfuhr und die die Frau ihren ärgsten Feinden nicht wünschte. Ihre Betonung der sechs Stunden tauchte in meinen Gedanken auf. - Wie viel Schmerz und Leid gibt es auf der Welt? Leid, das sich zeitlich nicht erfassen, messen, vergleichen lässt. Wie lange dauert die Geburt eines Kindes, die unter Schmerz geschieht? Wie lange leiden Menschen in Pflegeheimen, in Intensivstationen, wenn ihnen bewusst wird, dass die Zeit des Todes bevorsteht? Wie viele Selbstbilder offenbaren sich als Illusion in diesen Stunden? Was ist mit den Menschen, die in Kriegen permanent die Unsicherheit der eigenen Existenz erleben und zum Töten genötigt sind?

Die Begegnung auf dem Friedhof motivierte mich weiter, der Bedeutung des Tragens einer Kopfbedeckung in Kirchen nachzugehen. Dabei stellte sich heraus, dass diese Tradition auf einen Brief von Paulus zurückgeht. Dieser schrieb, dass ein Mann sein Haupt, das als Abbild und Abglanz Gottes angesehen wird, entblößen müsse, damit er ihn nicht entehrt. Im Hinblick auf die Frauen schrieb er: “Jede Frau aber, die betet oder prophezeit, mit unverhülltem Kopf, bringt Schande über ihren Kopf” (2).

Dies erinnerte mich an ähnliche Traditionen im Judentum und Islam, wo im Gegensatz die Kopfbedeckung des Mannes als Zeichen der Ehrfurcht vor Gott gilt. Das Gemeinsame, so erkannte ich für mich, ist der Respekt und die Wertschätzung des heiligen Ortes.

Und was veranlasst einen Menschen, zu missionieren und den eigenen Glauben als alleinige Wahrheit und Heil anderen aufzwingen zu wollen? Dieses Verhalten, das ich in meinem Inneren als bedrohend und trennend erlebte, erinnerte mich stark an meine Oma Frieda. Doch das ist eine andere Geschichte, von der ich euch später erzählen werde.

Diese Frau, die mir so fremd und doch so nah war, hat mich zum Nachdenken über meinen eigenen Glauben, meine eigene Kultur und meine eigene Identität angeregt. Sie hat mir gezeigt, dass es mehr als eine Perspektive auf die Welt gibt, und dass wir alle etwas voneinander lernen können. Sie hat mir aber auch gezeigt, dass es manchmal besser ist, Raum zu lassen, anstatt die eigene Sicht als die allein richtige anderen aufdrängen zu wollen. Es scheint mir wichtiger, das Herz zu berühren, als den Verstand mit Vorgaben anzusprechen.

Welche Inspiration wäre wechselseitig möglich gewesen, wenn sie uns nicht mit ihrem nachdrücklichen, jedoch wohlmeinenden Verhalten hätte retten wollen, was bei uns nur Fluchtimpulse auslöste?





Anmerkungen:
Die Begegnung geschah am Vormittag des 17. Januar 2024 

(1) siehe auch: Die Russische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriachat - Pfarrei Maria Magdalena in Weimar / Thüringen - https://www.rok-weimar.de

(2) Der erste Brief des Paulus an die Korinther - 1 Kor 11,2-16
https://www.bibleserver.com/LUT/1.Korinther11


Zusammenfassung:
In dieser kleinen Anekdote berichte ich von meinem Besuch auf dem Friedhof in Weimar, wo ich eine russisch-orthodoxe Frau traf, die mich mit ihrem Glauben konfrontierte. Sie sprach mich auf verschiedene Dinge an und wollte mich bekehren. Ich dachte über ihre Worte nach und recherchierte über ihre Traditionen.

Stichworte:
Friedhof, Weimar, russisch-orthodox, Glaube, Kirche, Religion, Kultur, Identität, Missionierung, bekehren, Paulus








Text und Fotos © 2024 Hans Jürgen Groß









Beliebte Posts