Die Königstochter und die Hünen, oder: ein Lied vom Tanz zwischen Schlaf und Erwachen
Agnes Schulz-Engelhardt (1942–2012) Todtmoos/Rütte
So erging es einem Menschenkind, das an einem frühen Herbstmorgen durch die Heidelandschaft lief. Müde, erschöpft, mit Gedanken in der Zukunft und deren Forderungen, verwoben mit den Lasten der vergangenen Stunden und der Angst der Gegenwart. Scheinbar ziellos gelangte es an einen Ort, an dem drei alte Gräber lagen, die man „Königsgräber“ nannte. Das Menschenkind ließ sich unter einer der alten Eichen nieder, die diesen Ort bewachten, und fiel in einen tiefen Schlaf.
Im Traum hörte es die Worte der Erde, die zu ihm sprach:
Ich bin die Erde. Ich flüstere durch die Besenheide, die sich im Spätsommer violett färbt, wie lila Atem über unendlichen Hügeln. Ich trage Wacholderbüsche, durch deren Äste Nebel gleitet wie ein Tuch aus Licht. In meinem Schoß ruhen die alten Steine der Gräber – behutsam gesetzt, vom Wind umspielt, vom Sonnenlicht gewärmt.
Einst stand hier ein Palast, einsam inmitten der stillen Weite. Darin lebten ein alter, weiser König und seine Tochter – ihr aufkeimendes Wesen so klar, dass es bis zu den Hügeln der Riesen getragen wurde. Diese Hünen, von denen auch ich eine bin – Sturm, Feuer, Wasser und Erde –, erhörten das Lied ihres Lichts. Mit donnernden Schritten kamen wir heran, bis die Heide bebte und zitterte, neugierig, diese junge Prinzessin zu schauen. Die Menschen im Königreich aber erstarrten in Furcht angesichts des Chaos, das wir brachten, und beschlossen, gegen uns zu kämpfen.
So gab er ihr drei Geschenke mit auf den Weg:
Einen Gürtel, der sie leicht wie Nebel machte, sodass sie über die violettfarbenen Hügel fliegen konnte – zugleich aber schützend, wie ein Zaun um das, was heilig ist.
Eine Salbe, die ihr Schlaf schenkte – nicht des Vergessens, sondern der zeitlosen Reifung, wie ein Same, der unter Moos und Sand verborgen wächst.
Eine Peitsche, deren Knall klar war wie ein Blitz in der Nacht, um Nähe fernzuhalten, ohne zu vernichten.
Die Königstochter lief hinaus in die Welt, bis sie einen Felsen fand mit einer goldenen Kammer. Dort legte sie sich nieder, nahm etwas von der Salbe und schlief den Schlaf der Verwandlung, zwölfmal zwölf Jahre lang. Der alte König setzte sich auf seinen Thron und schlief ein, ohne jemals wieder zu erwachen. Der Palast verfiel, Stein um Stein.
Währenddessen kämpften die Menschen einen aussichtslosen Kampf gegen meine Brüder und mich. Viele verloren ihr Leben in diesem sinnlosen Ringen, doch auch die Kräfte meiner Brüder erschöpften sich. Einer nach dem anderen sank nieder wie tot.
Alles nahm ich in mich auf – den Palast, die Gefallenen der Kriege, ihre Hoffnungen, ihre Geschichten. Meinen Brüdern baute ich ein Bett aus Steinen, in dem sie ruhen und neue Kräfte sammeln konnten. So entstanden die Gräber, die ihr heute seht: behütete Stätten, in denen Zeit und Erde einander halten.
Die Königstochter aber erwachte als Königin. In sich trug sie den Samen des Alten, und sie herrschte weise und fürsorglich. Den Gürtel legte sie an, und er schenkte ihr die Freiheit, über ihr Reich zu wachen. Die Peitsche schwang sie nicht zum Schlagen, sondern wie eine Dirigentin, die die wilden Elemente zu einem Orchester fügt. Und die Weisheit der Zeit, die ihr die Salbe geschenkt hatte, lehrte sie, Milde und Strenge im rechten Augenblick zu verbinden. Unter ihrer Herrschaft fanden die Menschen zu einem Frieden zurück, der sie mit allem verband. Nach einem langen, erfüllten Leben kehrte sie zu ihrem Vater heim und ruht nun in mir. Auf König folgte Königin, auf jene wieder König – unzählige Male.
Doch nicht alles ruht. In manchen Nächten steigt Nebel aus den Senken, zieht über die Heide, windet sich zwischen den Steinen wie ein Wispern längst vergangener Zeit. Es sind die Stimmen der Hünen, meiner Brüder, die mahnen, dass rohe Kräfte niemals ganz verschwinden, sondern sich verwandeln – wie das Echo eines Sturms, der längst verklungen ist.
Wenn Mitternacht naht, erwacht die Königin. Sie legt den Gürtel um, nimmt die Peitsche zur Hand und erhebt sich über Wacholder und Heidekraut. Mancher hört ihren Ruf und glaubt, er sei Rache für altes Leid. Doch wer still lauscht, vernimmt ein anderes Lied: eines von Freiheit, von innerer Würde, vom Mut, Nähe und Abstand zugleich zu wahren. Ein Lied vom Tanz zwischen Schlaf und Erwachen, zwischen Regen und Sonne, zwischen Aufbruch und Ruhe.
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Das Menschenkind unter der Eiche erwachte aus dem Schlaf. Es hatte geträumt, konnte sich jedoch nicht erinnern. Und dennoch reifte die Geschichte, die die Erde erzählt hatte, in ihm weiter – Stunden, Tage, Jahre lang.
© 2025 – Hans Jürgen Groß

Anmerkung:
Die Erzählung basiert auf der alten Sage „Die Hünen und die Königstochter“, die mir auf einer Wanderung durch die Heide im September 2025 in der Region Uelzen / Bad Bevensen begegnete.
Die Originalfassung der Sage lautet:
Mitten in der Heide stand ein großer Palast, darin lebte ein König mit seiner Tochter. Rings herum hausten Hünen – wilde, riesenhafte Gesellen. Eines Tages hörten sie von der schönen Prinzessin und beschlossen, sie zu rauben. Zu Hunderten zogen sie vors Schloss und warfen ihre Granitblöcke gegen die Mauern, dass es meilenweit donnerte und dröhnte. Zunächst hielt die Festung, aber der König sah, dass die Riesen nicht aufgeben würden. So verhalf er seiner Tochter zur Flucht und gab ihr drei magische Dinge mit auf den Weg: einen Gürtel, mit dem sie fliegen konnte, eine Salbe, die Zauberschlaf brachte, und eine Peitsche. Die Königstochter fand einen großen Felsen, in dem ein goldenes Bettlein war, in das sie sich legte und dank der Salbe schlief.Die Riesen aber zerschmetterten die Festung. Als sie in den Trümmern nur den toten König fanden, gerieten sie in Streit und erschlugen sich gegenseitig. Ein Hüne blieb übrig. Er nahm die Leichname und baute ihnen aus Felsbrocken Hünengräber, die noch heute zu sehen sind.
Aber die Geister der Hünen ziehen nachts als graue Nebelgestalten noch immer über die Heide. Auch die Königstochter erwacht um Mitternacht, legt ihren goldenen Gürtel an, nimmt die Peitsche in die Hand und jagt mit Zischen und Heulen durch die Lüfte, auf ihrem Rachezug
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Zusammenfassung:
Die Königstochter und die Hünen
oder: Ein Lied vom Tanz zwischen Schlaf und Erwachen
Eine poetische Erzählung von Hans Jürgen Groß, inspiriert von einer alten Volkssage
Ein Menschkind, erschöpft vom Lärm der Welt, findet sich an einem uralten Ort wieder – zwischen Heidekraut und Königsgräbern, wo die Erde selbst zur Erzählerin wird. In einem Traum offenbart sie eine Geschichte, die tief in den Schichten der Zeit verwurzelt ist: von einer Königstochter, die den Ruf der Elemente vernimmt, von Geschenken, die Wandlung ermöglichen, und von einem Schlaf, der zur Reife führt.
Hans Jürgen Groß verwebt in dieser Erzählung die Kraft einer alten Volkssage mit einer modernen, poetischen Sprache. Es ist ein Mythos über das weibliche Prinzip, über Transformation, über den Tanz zwischen Chaos und Frieden, zwischen Nähe und Abstand, zwischen Schlaf und Erwachen.
Die Erde spricht – leise, eindringlich, voller Symbolik. Sie erzählt von der Königin, die aus der Tiefe erwacht, um die wilden Kräfte zu binden und in Harmonie zu verwandeln. Wer lauscht, hört mehr als Worte: Er hört das Lied der Hünen – und vielleicht auch das eigene.
Ein Text für alle, die sich nach innerer Tiefe sehnen, nach Geschichten, die nicht laut, sondern wahrhaftig sind. Für Suchende, Träumende, Wandelnde.
Stichworte:
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