Das Märchen vom Pferd und dem Kettenhund
Ein Gleichnis über Kontrolle, Unterwerfung und die stille Kraft der Erinnerung
Einleitung
In meiner Arbeit mit Menschen – ob in Gruppen, im Coaching oder in der biografischen Begleitung – begegnet mir immer wieder ein stilles Thema: die innere Kontrolle und Selbstunterwerfung. Sie zeigt sich nicht laut, sondern in Anpassung, Rückzug, Überfunktion. Die Auseinandersetzung mit dem inneren Kritiker kann so ein Thema sein. Das Märchen, das ich heute erzählen möchte, und seine Deutung sind eine Einladung, sich selbst darin zu erkennen. Nicht mit Urteil, sondern mit Mitgefühl.
Das Märchen
Es war einmal ein Pferd, das in einem engen Stall lebte. Jeden Morgen wurde es angespannt, zog den Wagen oder den Pflug, wie man es ihm befahl – stramm, stark, gehorsam. Es hatte gelernt, dass sein Wert im Funktionieren lag. Wenn die Sonne sank, spürte es eine Müdigkeit, die tiefer war als Hunger und Durst. Eine Erschöpfung, die nicht vom Körper kam. Es sehnte sich nach Wind in der Mähne, nach Weite jenseits der Felder. Doch die Zügel waren fest. Und so glaubte es:
„Ich bin wertlos, nur ein Werkzeug. Die Welt ist ein Ort, der mich straft, wenn ich mich verweigere und nicht funktioniere.“
Nicht weit davon lag ein Hund an einer schweren Kette vor dem Hof. Er bellte, wenn jemand kam, und lag still, wenn niemand da war. Seine Welt reichte nur so weit, wie die Glieder der Kette es erlaubten. Er hatte gelernt, dass Nähe Schmerz bringt und Freiheit Gefahr bedeutet. Manchmal träumte er von den Wäldern, die er nur aus der Ferne roch. Doch jedes Ziehen an der Kette erinnerte ihn:
„Ich bin nicht in Ordnung, für andere gefährlich. Die Welt ist ein Ort, der mich beschämt, wenn ich mich zeige.“
Beide lebten in einem System aus Kontrolle. Nicht nur durch Stall und Kette – sondern durch die Stimmen, die sich in ihnen eingenistet hatten. Stimmen, die sagten: „So ist es. So muss es sein.“
Eines Tages kam eine alte Frau den Weg entlang. Ihre Schritte waren langsam, doch ihr Blick war klar. Sie sah das Pferd mit gesenktem Kopf und den Hund mit wundem Hals. Sie ging zu ihnen und sprach leise:
„Ihr seid nicht das, was man aus euch gemacht hat. Die Zügel, die Kette – sie halten euch nur, solange ihr glaubt, dass sie Recht haben. Ihr müsst sie nicht sprengen. Es reicht, wenn ihr euch erinnert: Ihr seid nicht geboren, um zu dienen. Ihr seid geboren, um zu leben.“
Das Pferd hob den Kopf. Der Hund spitzte die Ohren. Sie wussten nicht, ob sie dieser Stimme glauben sollten. Doch tief in ihnen klang etwas an – ein Echo, das älter war als Stall und Kette. Ein Wissen, das nie ganz verschwunden war:
„Ich bin in Ordnung und lebendig. Die Welt ist bunt und groß, viel größer als meine Fessel.“
In dieser Nacht träumten sie anders. Das Pferd sah sich galoppieren, nicht für einen Zweck, sondern aus Freude. Der Hund rannte durch Wälder, nicht um zu jagen, sondern um zu atmen. Und als der Morgen kam, hatte sich etwas verändert. Nicht die Zügel. Nicht die Kette. Sondern der Blick.
Denn manchmal beginnt Freiheit nicht mit einem Schritt – sondern mit einem Gedanken, der sich weigert, sich weiter zu beugen.
Kontrolle und Unterwerfung
Ein Resonanzraum zum Märchen
Viele von uns tragen ein Stück Pferd und ein Stück Kettenhund in sich. Von klein auf lernen wir, uns einzufügen. Mal durch strenge Zucht, mal durch Überbehütung, mal durch das stille Echo der Vernachlässigung. Kontrolle hat viele Gesichter: – die erhobene Hand – das unausgesprochene „Du enttäuschst mich“ – das „Sei brav“ – oder das „Du bist zu viel“
Geschlechterrollen – einst prägend, heute durchlässiger
Lange war die Sozialisation stark geschlechtsbezogen: Jungen lernten oft, hart zu sein, durchzuhalten, Tränen zu schlucken – Kontrolle bedeutete, Gefühle zu unterdrücken, um nicht schwach zu erscheinen. Mädchen wurden häufig zur Anpassung erzogen, zum Gefallenwollen, zur Rücksicht – Kontrolle wirkte subtiler, indem sie die Sehnsucht nach Harmonie gegen die eigene Freiheit stellte.
Diese Muster wirken bis heute nach. Doch sie sind durchlässiger geworden. Viele Menschen erleben heute eine Mischung aus beiden Prägungen – unabhängig vom Geschlecht. Die Art, wie Kontrolle wirkt, hängt weniger von biologischen Kategorien ab als von Erziehungsstilen, familiären Dynamiken und gesellschaftlichen Erwartungen.
Kontrollunterwerfung – wie Strafe zur Identität wird
Ein vertiefender Blick auf die inneren Mechanismen
Bevor wir uns selbst kontrollieren, wurden wir kontrolliert. Die Welt hatte Erwartungen an uns – oft unausgesprochen, manchmal brutal deutlich. Ein Kind lernt früh: Wer sich nicht fügt, wird bestraft. Manchmal durch Strenge und Züchtigung. Manchmal durch Liebesentzug und subtile Beschämung: „Ich tue alles für dich – sei mir dankbar.“ „Du bist mir peinlich.“ „So wie du bist, bist du zu viel.“
Diese Formen der Kontrolle wirken wie Strafen, die nicht nur Verhalten korrigieren, sondern Identität formen. Das Kind lernt: „Ich bin falsch.“ „Die Welt ist gefährlich, wenn ich mich zeige.“
Die Ursachen sind vielfältig: Manche wurden geschlagen und lernten, dass Widerstand wehtut. – Andere wurden überbehütet oder verwöhnt und erfuhren, dass Zuwendung an Bedingungen geknüpft ist. – Wieder andere standen im Schatten der Vernachlässigung und suchten umso dringender nach Anerkennung. – Viele wurden von Gleichaltrigen verspottet oder ausgeschlossen, oder erlebten eine traumatische Situation – auch dies sind Formen der Unterwerfung, die das innere Rückgrat krümmen können.
Und so beginnt ein Prozess der inneren Anpassung: nicht um zu gefallen – sondern um zu überleben. Das Kind übernimmt die Kontrolle über sich selbst, um der äußeren Strafe zu entgehen. Es entwickelt eine unterwerfende Selbstkontrolle – eine innere Instanz, die mahnt, warnt, zügelt. Nicht aus Freiheit, sondern aus Angst.
Die Methoden dieser Selbstkontrolle sind verschieden – je nach Temperament und innerer Not: ein Hang zum Perfektionismus, um nie angreifbar zu sein – ein hysterisches Wutentladen, wenn die Spannung zu groß wird – ein Rückzug in Anpassung, um nicht zu stören – ein Überfunktionieren, um sich unentbehrlich zu machen.
Diese Muster sind tief verankert – sie durchdringen die Individualität so sehr, dass keine Spontanheilung möglich ist. Die berühmte „Wunderfrage“ – „Was wäre, wenn du morgen frei wärst?“ – greift hier nicht. Denn das Muster ist nicht nur ein Verhalten. Es ist Teil des Selbstbildes. Eine plötzliche Befreiung würde die Identität zerreißen.
Was bleibt, ist ein achtsamer, langsamer Weg. Ein Prozess, der nicht auf Erlösung zielt, sondern auf Erinnerung. Nicht auf Kampf, sondern auf Kontakt.
Und zu diesem Weg gehört auch eine stille, aber tiefgreifende Erkenntnis: Ich selbst kann andere kontrollieren – aus denselben Mustern heraus, die mich einst verletzt haben. Vielleicht durch subtile Erwartung. Vielleicht durch emotionale Erpressung, Rückzug oder Dominanz.
Diese Momente zu erkennen, ohne sich zu verurteilen, ist Teil der Heilung. Denn wer sich selbst hinterfragt, unterbricht die Weitergabe. Und wer die Kontrolle loslässt, schafft Raum für Beziehung.
Auch der Wunsch, die „Verursacher“ des eigenen Leids zu bestrafen, ist nichts anderes als eine Umkehr der Kontrolle – ein Spiegel der Unterwerfung. Was heilt, ist nicht Rache. Was heilt, ist das stille Wiederfinden der eigenen Würde.
Der Weg im Erwachsenenleben
Die alte Frau aus dem Märchen schenkt den Tieren keine äußere Freiheit, sondern eine innere Erinnerung. Genau das ist der Weg für uns:
Vergegenwärtigen
Ich bin gut, so wie ich bin. Nicht erst, wenn ich perfekt bin. Nicht erst, wenn ich mich angepasst habe. Auch mit meinen Fehlern, Eigenheiten und Dispositionen bin ich richtig.
Achtsamkeit üben
Ich lerne wahrzunehmen, wenn alte Muster sich melden. Vielleicht beuge ich mich schon, bevor jemand mich dazu auffordert. Vielleicht schweige ich, um Streit zu vermeiden. Je öfter mir dies gewahr wird, desto mehr Raum für Veränderung entsteht.
Sanft bleiben
Vollkommen frei von alten Mustern werde ich schwerlich werden. Aber ich darf sie lachend begrüßen: „Ach, da bist du ja wieder. Ich kenne dich. Früher warst du wichtig. Heute darfst du weiterziehen.“
So wird der innere Kettenhund nicht verstoßen, sondern erlöst. So darf das Pferd Schritt für Schritt lernen, dass es auch ohne Zügel gehen kann.
Schlussbild
Vielleicht ist das die leise Wahrheit: Freiheit ist kein plötzlicher Sprung. Sie ist ein Erinnern – immer wieder. Ein Erinnern daran, ich lebe. Dass ich als Mensch einmalig bin. Und gut so bin, wie ich bin.
Manchmal stolpern wir zurück in alte Gehege. Doch jedes Mal, wenn wir uns nicht verurteilen, sondern freundlich auf uns selbst schauen, wächst etwas in uns – wie das Gras, das selbst durch Pflastersteine bricht. Nicht laut. Nicht schnell. Aber unaufhaltsam.
Und irgendwann merken wir: Die Kette war nie so stark, wie wir dachten. Sie war überhaupt nicht mehr da. Sie existierte nur in uns – in unseren Vorannahmen, in den Stimmen, die wir übernommen hatten.
Was bleibt, ist ein neuer Blick. Und die leise Gewissheit: Ich bin frei – nicht weil die Welt sich verändert hat, sondern weil ich mich erinnere, dass ICH bin.
Anmerkung:
Dieser Text ist Bestandteil meines Seminarangebotes: Achtsamkeit und Resilienz.
Literarische und tiefenpsychologische Analyse: "Das Märchen vom Pferd und dem Kettenhund" von Hans Jürgen Groß
https://claude.ai/public/artifacts/bd8cbbf8-1803-4c03-bee0-a87fc596029c
Zusammenfassung:
Das Märchen vom Pferd und dem Kettenhund von Hans Jürgen Groß
Viele von uns tragen ein Stück Pferd und ein Stück Kettenhund in sich. Dieses Märchen erzählt von Kontrolle, innerer Unterwerfung – und der leisen Kraft, sich zu erinnern, wer wir wirklich sind. Nicht laut. Nicht kämpferisch. Sondern achtsam, würdevoll, Schritt für Schritt.
Stichworte:
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