Das Geheimnis der Glutblume im Kehrenbachtal
Es war einmal in jener fernen Zeit, da man noch glaubte, der Wind trage Botschaften, das Wasser bewahre Erinnerungen, und der Mond wisse um die Geheimnisse der Menschen. In einem weiten Tal, wo sich der Nebel wie alte Geschichten an den Hängen verfing, lag ein Ort, den man weder suchte noch vergaß, wenn man ihn einmal durchquert hatte.
Hier, wo der Kornbach in dunklen Kehren schäumte, fliehend, strebend im schnellen Lauf, sich mit dem großen Fluss zu vereinigen, lebte ein altes Paar am Rande des Waldes.
Der Mann, ein Kohlenbrenner, war schweigsam wie die Erde. Tief in ihm brannte ein Feuer, das er nicht zeigte. Es war ein Feuer der Ordnung, der Sorgfalt, der stillen Genauigkeit und der Pflicht der Liebe zu seiner Frau. Seine Glut gab er nur, wenn es sein musste, denn er kannte den Preis jeder Gabe.
Seine Frau hingegen war aus einem anderen Holz geschnitzt. Leicht und unbeschwert, wie der Morgenwind, der durch die Felder fuhr, schien sie durch die Gassen des Dorfes zu schweben. Sie sprach mit den Nachbarn, den Tieren, dem Regen – und glaubte, jedes Herz könne erwärmt werden, wenn man es nur anspreche. Ihr Mangel war der Überfluss: Sie verschenkte, noch bevor jemand bat.
So lebten sie beide viele Jahre miteinander in einem Gleichmaß, das nie den Ausgleich verlor.
Bis jener Winter kam.
Es war ein Winter, wie man ihn nur aus alten Liedern von fernen Welten kennt – scharf, weiß und ohne Erbarmen. Der Frost legte sich über das Tal wie ein Leichentuch, und das Licht verschwand hinter Tagen, die nicht begannen, und Nächten, die nicht enden wollten.
Die Frau gab, was noch zu geben war. Sie reichte warme Suppen an die Alten, warf Decken über frierende Kinder und lächelte gegen das Dunkel an, das langsam durch Ritzen und Träume der Dorfbewohner kroch.
Der Mann jedoch schwieg, gefangen in der eigenen Tiefe. In seinen Augen wurde die Glut kleiner. Die Vorräte schrumpften. Der Meiler erkaltete. Und das eigene Holz, sorgsam geschichtet, verzehrte sich nun unter fremden Dächern.
Am dritten Neumond dieser unwirklichen Zeit, als selbst der Atem in der Stube zu Eis gefror, war alles, was geblieben war, ein kleiner Rest Glut im heimischen Herd. Und die Dorfbewohner? Keine Bitte. Kein Dank. Nur Stille.
Und dann – Die Not.
Die Frau wurde blass. Ihre Stimme leiser. Ihre Wärme wich ihren Worten. „Ich kann nichts mehr geben“, flüsterte sie. „Dann höre endlich auf“, sagte der Mann, doch seine Stimme klang nicht wie Zorn, sondern wie Angst vor dem, was sie jetzt unweigerlich erwartete.
Er sah auf ihre leeren Hände. Er sah auf den erkalteten Herd. Er sah auf sich selbst – und erkannte, dass er sie nicht schützen konnte.
So lag jetzt nicht nur Frost auf dem Land, sondern auch ein Schatten zwischen den beiden – geboren aus der Schuld des Gebens und der Angst um das Eigene.
In jener Nacht, als selbst der Mond vor Kälte zitterte, klopfte es. Leise. Dreimal. „Öffne nicht“, flüsterte er, doch seine Frau hatte die Tür bereits einen Spalt aufgetan.
Vor der Tür stand ein Wesen. Klein wie ein Kind, gehüllt in Fell und Nebel. Das Gesicht verborgen. Es sprach nicht, doch in seiner Hand lag eine Wurzel – gedreht, schwarz, glimmend von innen.
Der Mann nahm sie, ohne zu fragen. Er legte sie auf das letzte Stück Glut.
Und das Wunder geschah. Das Feuer erwachte. Es flackerte nicht – es leuchtete ruhig, warm, unermüdlich.
Der Herd wurde wieder zum Herz. Die Wärme kam zurück. Doch sie war anders als zuvor. Sie wollte nicht verschenkt, sondern gehütet sein.
In den folgenden Wochen lernten sie, Maßzuhalten. Ein Suppenteller blieb nun im eigenen Haus. Ein Bündel Holz wurde geteilt – nicht verschenkt.
Und sie begannen miteinander zu reden. Über das, was Fürsorge wirklich meint. Dass Helfen nicht bedeutet, sich selbst zu vergessen. Dass Glaube an das Gute nicht heißt, das Eigene gering zu achten. Dass Moral mehr ist als Verzicht – sie ist das rechte Maß im rechten Moment.
Als die Wärme der Sonne erneut Einzug hielt im Tal, trugen sie die Wurzel zurück in den Wald. Dort, wo der Kornbach Geschichten murmelt, legten sie sie unter eine alte Buche. Und aus ihr wuchs – leise, beinahe schüchtern – eine Blume.
Rot wie Glut. Still wie Erkenntnis. Tanzend wie Erinnerung.
Und wer heute durch das Kehrenbachtal wandert, wenn das erste Grün erwacht, mag sie sehen – eine Blume, die daran erinnert, dass das Licht nur bleibt, wenn man es auch im eigenen Haus bewahrt.
Denn:
Wer sich selbst vergisst, kann niemand retten.
Wer nur bewahrt, verhärtet an der Last.
Doch wer gibt aus dem, was wirklich in ihm leuchtet –
dessen Gabe wärmt die Welt.
Geschrieben und erzählt – für alle, die geben. Und alle, die lernen dürfen, sich selbst dabei nicht zu verlieren.
- Länge: ca. 12 km
- Quelle: Im Melsunger Bergland, nahe dem Dorf Kehrenbach auf etwa 420 m ü. NN
- Mündung: In Melsungen in die Fulda, auf etwa 164 m ü. NN
- Höhenunterschied: ca. 256 m – ergibt ein deutliches Gefälle von rund 21 ‰
- Nebenflüsse: Links: Ohebach, Rechts: Sandgraben
Verlauf und Landschaft
Der Bach wird im Oberlauf auch Salmsbach genannt.
Er entspringt zwischen den Bergen Breiter Stein (533 m) und Salsmbachskopf (493 m), in einem bewaldeten Gebiet zwischen Großem und Kleinem Süttelsberg.
Er fließt durch das Dorf Kehrenbach, vorbei am historischen Standort des Jagdschlosses Kehrenbach, dann weiter durch Kirchhof und unterquert die Kehrenbach-Talbrücke der ICE-Strecke Hannover–Würzburg.
Schließlich erreicht er die Kernstadt Melsungen, wo er kurz darauf in die Fulda mündet.
Besonderheiten des Kehrenbachtals
Das Tal ist Teil des nordhessischen Berglands und geprägt von Wäldern, Wiesen und sanften Hügeln.
Die Region ist reich an Sagen und Geschichten,
Die Wildbahn-Hütte oberhalb des Tals ist ein beliebter Rastplatz für Wanderer.
Das Tal ist durchzogen von alten Flurnamen, historischen Mühlenstandorten und Spuren früherer Besiedlung.
Der Bachlauf war einst wirtschaftlich bedeutsam – etwa durch die Kornmühle, die dem Bach wohl seinen ursprünglichen Namen „Kornbach“ gab.
Zur Herkunft des Namens „Kehrenbach“ (früher „Kornbach“)
Der Bach wurde in alten Urkunden mehrfach erwähnt, u. a. als:
- Kornbach (1375)
- Karnbach (1452)
- Cornbach (1463)
- Kerenbach (1474)
- Körnbach (1575)
Der heutige Name „Kehrenbach“ ist vermutlich eine Lautverschiebung oder volksetymologische Umformung des ursprünglichen „Kornbach“. → Möglich ist auch ein Bezug zu den „Kehren“ des Baches – also seinen Windungen im Tal.
In der Chronik der gleichnamigen Gemeinde Kehrenbach (Stadtteil von Melsungen) wird zudem erwähnt, dass der Ort selbst 1209 als „Querenbach“ erstmals urkundlich auftauchte – was ebenfalls auf eine frühe Namensvielfalt hinweist.
(Quelle: Microsoft Copilot)
Hans Jürgen Groß' Erzählung "Das Geheimnis der Glutblume im Kehrenbachtal" ist eine tiefgründige Parabel über das richtige Maß im Geben und Nehmen, über Selbstfürsorge und die wahre Natur von Hilfsbereitschaft. Die Geschichte spielt in einer mythisch anmutenden Zeit, in der die Natur noch beseelt ist und das Tal der Schauplatz für eine elementare Lektion wird.
Die Charaktere als Spiegel zweier Extreme
Im Zentrum der Erzählung steht ein altes Ehepaar, das zwei gegensätzliche Lebensphilosophien verkörpert:
Der Mann, ein Kohlenbrenner, ist ein Sinnbild der Bewahrung, der inneren Glut und des bedachten Gebens. Er ist schweigsam und trägt ein "Feuer der Ordnung, der Sorgfalt, der stillen Genauigkeit und der Pflicht der Liebe zu seiner Frau" in sich. Er weiß um den "Preis jeder Gabe" und gibt nur, wenn es unbedingt nötig ist. Seine Stärke liegt in der Selbstbeherrschung und dem Schutz des Eigenen.
Die Frau hingegen ist die Verkörperung des Überflusses und der bedingungslosen Großzügigkeit. Sie ist "leicht und unbeschwert" und verschenkt "noch bevor jemand bat". Ihre Wärme und ihr Wunsch zu helfen sind grenzenlos, aber genau diese grenzenlose Gabe wird in der Krise zu ihrer Schwäche.
Obwohl sie so unterschiedlich sind, leben sie zunächst in einem "Gleichmaß", das den Ausgleich hält.
Die Krise als Katalysator der Erkenntnis
Die eigentliche Handlung entfaltet sich in einem extrem harten Winter, der das Tal und seine Bewohner an den Rand des Überlebens bringt. Dieser Winter ist nicht nur eine Naturkatastrophe, sondern auch eine Metapher für existenzielle Not und Verzweiflung.
Die Frau gibt weiterhin, bis sie selbst nichts mehr hat und ihre eigene Wärme verliert. Ihre selbstlose Hingabe führt sie an ihre Grenzen und droht sie zu zerstören.
Der Mann zieht sich in seine "eigene Tiefe" zurück, seine innere Glut wird kleiner, und er muss zusehen, wie ihre "eigene Holz" für andere verbraucht wird. Er erkennt, dass er sie nicht schützen kann, weil sie sich selbst vergisst.
Die Stille und der ausbleibende Dank der Dorfbewohner nach all den Gaben der Frau unterstreichen die Einsamkeit des Gebenden, wenn die Gabe nicht im rechten Maß erfolgt oder nicht als solche wahrgenommen wird. Es entsteht ein "Schatten zwischen den beiden – geboren aus der Schuld des Gebens und der Angst um das Eigene".
Die Glutblume als Symbol der ausgewogenen Gabe
Der Wendepunkt kommt mit dem Erscheinen eines mysteriösen Wesens, das eine "Wurzel – gedreht, schwarz, glimmend von innen" überbringt. Diese Wurzel, auf die letzte Glut gelegt, lässt ein neues, unermüdliches Feuer entfachen.
Die Glutblume und die daraus resultierende neue Wärme sind Symbole für eine tiefgreifende Erkenntnis und Transformation. Die Wärme, die sie jetzt spendet, ist "anders als zuvor. Sie wollte nicht verschenkt, sondern gehütet sein."
Das Paar lernt, "Maßzuhalten". Sie geben nicht mehr blindlings, sondern teilen bewusst. Dies bedeutet nicht, egoistisch zu werden, sondern zu erkennen, dass wahre Fürsorge auch die Selbstfürsorge einschließt.
Sie beginnen, über die Bedeutung von Fürsorge und Hilfsbereitschaft zu sprechen. Die Moral der Geschichte wird hier explizit: "Dass Helfen nicht bedeutet, sich selbst zu vergessen. Dass Glaube an das Gute nicht heißt, das Eigene gering zu achten. Dass Moral mehr ist als Verzicht – sie ist das rechte Maß im rechten Moment."
Die Botschaft der Erzählung
Die Geschichte gipfelt in der Rückgabe der Wurzel an die Natur, aus der die Glutblume wächst. Diese Blume ist eine bleibende Erinnerung an die gewonnene Weisheit: "eine Blume, die daran erinnert, dass das Licht nur bleibt, wenn man es auch im eigenen Haus bewahrt."
Die abschließenden Zeilen fassen die zentrale Botschaft zusammen:
"Wer sich selbst vergisst, kann niemand retten." – Eine Warnung vor dem Selbstverlust durch übermäßiges, unbedachtes Geben.
"Wer nur bewahrt, verhärtet an der Last." – Eine Warnung vor Geiz und Isolation, die zu emotionaler Erstarrung führen.
"Doch wer gibt aus dem, was wirklich in ihm leuchtet – dessen Gabe wärmt die Welt." – Die ideale Form des Gebens, die aus innerer Fülle und Bewusstsein entspringt, nicht aus Mangel oder Selbstaufgabe.
Insgesamt ist "Das Geheimnis der Glutblume im Kehrenbachtal" eine wunderschöne und zeitlose Geschichte, die dazu anregt, über die Balance zwischen Geben und Nehmen, Altruismus und Selbstschutz nachzudenken und die wahre Quelle nachhaltiger Wärme und Hilfe in sich selbst zu finden.
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Wenn das Geben zur Sehnsucht wird – und das Schweigen zur Glut …
In einem abgelegenen Tal, wo Nebel Geschichten flüstern und Bäche Erinnerungen tragen, lebt ein altes Paar im Gleichklang der Gegensätze: er, still und achtsam; sie, offenherzig und voller Wärme. Doch als ein erbarmungsloser Winter über das Kehrenbachtal hereinbricht, geraten Fürsorge und Hingabe aus dem Gleichgewicht – bis ein rätselhaftes Wesen und eine glühende Wurzel alles verändern.
„Das Geheimnis der Glutblume“ ist ein poetisches Märchen über das rechte Maß, über die Kraft des Innehaltens und die stille Kunst, Licht nicht nur zu spenden – sondern es auch im eigenen Herzen zu bewahren.
Für alle, die geben – und manchmal lernen müssen, sich selbst dabei nicht zu verlieren.
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