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Ein schönes Novemberwochenende: Eine Erzählung über das Leben und den Wandel

Wir sind alle auf dem gleichen Weg. 
Gemeinsam auf dem Weg zu sein 
heißt nicht am selben Ort zu sein.


„Habe ein schönes Wochenende“, hatte ihre Freundin Ann ihr vorgestern zum Abschied nach der Vorlesung zugerufen. Schönes Wochenende, dachte Mia, als sie aus dem Auto stieg. Ja, nächste Woche vielleicht! Da hatte sie sich mit Ann auf dem Weihnachtsmarkt verabredet. An den Buden und Karussells vorbeiziehen, vielleicht einen Glühwein trinken. Mit Menschen in Kontakt kommen, vielleicht auch etwas flirten. Das würde schön werden.

Aber dieses Wochenende war so trüb und trostlos. Sogar der Besuch in ihrem Lieblingsclub musste ausfallen, da es verboten war zu tanzen. Warum nur? Und jetzt dieser alljährliche Familienbesuch auf dem Friedhof, am Grab der Großmutter. Mia hatte ihre Oma abgöttisch geliebt. Und es hatte sie geschmerzt, als sie vor einiger Zeit gestorben war. In die Transition gegangen, wie ihre Oma es selbst genannt und Mia auf diesen Augenblick vorbereitet hatte. Sie wusste, dass ihre Oma immer bei ihr war. Sie hatte so viel von ihr gelernt: ihre Sicht auf die Welt und auf das Leben. Aber diesen Friedhofsbesuch hätte sie bestimmt nicht gewollt.

„Wenn du mich suchst“, war ihre Botschaft an Mia gewesen, „dann suche mich in den Bäumen und Pflanzen, in den Wolken, im Wind und in den Wellen. Und auch ganz tief in dir werde ich sein, wenn du mich brauchst.“

Und nun standen sie hier auf dem kalten Friedhof. Ein Grab neben dem anderen, in gerader Linie angeordnet. Überall grauer Granit. Auch dies hätte Oma nicht gefallen. Das Schlimmste aber war, wie ihre Eltern den Verlust der Mutter beklagten und dabei ihre eigene Angst vor dem Tod zum Ausdruck brachten.

Für sie war der Tod das Ende. Ein großes schwarzes Loch, allein, verlassen, vom Leben getrennt. Dabei folgten sie in ihrem Leben immer den gleichen Routinen, jeder Tag wie der andere. Von Pflichten und Ängsten durchtränkt. Sie wusste, dass ihre Eltern häufig stritten, ihre Mutter Erleichterung in den ihr verordneten Psychopharmaka fand. Für ihren Vater zählte nur der berufliche Erfolg und die Anerkennung. Nur nicht auffallen, mit dem Strom schwimmen, der Meinung der breiten Masse folgen.

Als Oma damals gestorben war, organisierte er für seine Mutter eine standesgemäße Beerdigung, mit Eichensarg und Leichenschmaus. Mia musste diese hässlichen schwarzen Klamotten tragen, die sie anschließend in der hintersten Ecke ihres Schrankes platzierte und dann bei nächster Gelegenheit in die Altkleidersammlung gab. Ihre Oma hätte sich sicherlich gewünscht, dass sie sich schön und bunt angezogen hätte, dass sie gemeinsam ausgelassen und voller Freude getanzt und gefeiert hätten. Gefeiert, dass Oma nun eine neue Existenzform erreicht hat, so wie man auch eine Hochzeit als Form eines neuen Lebensabschnittes, einer neuen Existenz ausgelassen begeht.

Ach, wäre Oma doch nur hier. Schon früh hatte sie Mia gelehrt, dass wir alle in einer Welt der Gegensätze leben. Dass es die Dunkelheit gibt, wie auch das Licht. Und dass dies gut so sei. Denn nur aus den beiden Extremen heraus war etwas Drittes möglich, das für das Leben und seine Weiterentwicklung steht. So wie aus dem Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ebbe und Flut immer neue Möglichkeiten und Schönheiten entstehen. 
Stillstand ist ebenso wie vollkommenes Chaos dem Leben fremd, so hatte Oma gesagt. Alles sei im ständigen Wandel begriffen. Nichts festgeschrieben. Das einzig Beständige sei die stetige Veränderung. 

Jedoch könne nichts entstehen, was ins Ungleichgewicht führt, war die Erkenntnis der Großmutter. Alles in dieser Welt ist immer im Gleichgewicht, egal ob uns dies jetzt gefällt oder nicht. Wenn sich die Dunkelheit ausdehnt, so wird auch das Licht wachsen, denn alles ist in der Waage. Darauf dürfen wir vertrauen. So wie wir darauf vertrauen können, dass nach einem Sturm wieder die Sonne scheint, dass nach einer Krankheit wieder die Gesundheit kommt, dass nach einem Streit wieder die Versöhnung folgt. Ein zunehmendes Chaos ist also Voraussetzung für eine neue Ordnung. Jede neue Struktur fordert das Chaos heraus.

Nichts, aber auch gar nichts geht in diesem Spiel der Wandlungen verloren. Wir bewegen uns vielmehr immer auf eine neue Stufe, die auf der vorherigen aufbaut, diese beinhaltet. Und so ist es auch mit der Geburt, dem Leben und dem Tod. Jeder Mensch ist keine Minute gleich, sondern ändert sich ständig. Und auch jedes Glas Wein erzählt dir von einem vergangenen Sommer, der Sonne und dem Regen.

Das Beispiel des Weines zeigt, dass sich zwar die äußere Form verändern kann, die eigentliche Essenz jedoch sowohl in der Traube, als auch in transformierter Form im Wein zu finden ist. Man spricht ja auch von dem Geist des Weines. So ist es auch beim Menschen. Wir sind mehr als nur ein physischer Körper, wir sind Leib, Seele und Geist. Und unser Geist ist die Essenz, die unsere Form bestimmt. Deshalb ist es so wichtig, immer positiv auf die Dinge zu schauen.

Oma hatte ihr dies an zwei Beispielen erklärt, die Mia noch in Erinnerung waren. Wenn man dir die Haare schneidet, so wachsen neue nach. Der Haarschnitt selbst schmerzt nicht, deine Gefühle, Gedanken, Neigungen und deine Identität werden hierdurch nicht berührt, auch wenn du nach dem Haarschnitt unter Umständen etwas anders aussiehst.

Wenn man dir jedoch ständig sagt, du wärst hässlich und dumm, so kann dies Einfluss auf deinen Geist nehmen. Wenn du mit der Zeit selbst hieran glaubst, wirst du dies körperlich auch für die Außenwelt zum Ausdruck bringen.

Alles steht in dieser universellen Ordnung und lässt das Göttliche in allen Dingen erkennen. Aus dieser Sicht ergibt sich für den einzelnen die Aufgabe, sich seiner göttlichen Natur bewusst zu werden. Er sollte lernen, die Gegensätze in sich selbst und in der Welt zu erkennen und zu integrieren. Er sollte sich als Teil des größeren Ganzen verstehen und sich für die Welt einsetzen, erinnerte sich Mia an den Glauben der Großmutter.

„Schau nicht bewertend auf deine Eltern“, hörte sie Omas Stimme in sich. „Sie sind auf dem Weg, genau wie wir alle. Auf dem Weg sein heißt aber nicht am selben Ort sein.“

Mia schreckte aus ihren Gedanken auf, als ein sanfter Windstoß sie berührte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie dieser ein Blatt vom Baum gerissen hatte. Das Blatt tanzte in der Luft und landete vor Mias Füßen. Diese schaute sich das Blatt an und lächelte. Sie hob es auf und streichelte es sanft. Die Berührung erinnerte sie an die alte, faltige Haut der Großmutter, die sie selbst so oft gestreichelt und die ihr immer so viel Liebe und Geborgenheit gegeben hatte. Es wurde ihr warm ums Herz. Für einen Moment war es so, als ob Mia wieder Kind sei und die Berührungen der Großmutter spürte. Ganz eng und tief war sie in diesem Augenblick mit ihr verbunden.

Sie musste lächeln. Ja, so kannte sie ihre Oma. „Danke“, flüsterte sie vor sich, sodass die Eltern dies nicht hören konnten. Sie beschloss, den Nachmittag mit ihren Eltern zu verbringen, um zu schauen, an welchem Ort sich diese auf ihrem Weg befanden. Vielleicht könnte man gemeinsam ins Gespräch kommen, sich alter Dinge erinnern, gemeinsam lachen.

So hatte Mia rückblickend noch ein einzigartiges, schönes Wochenende erlebt. - Ihre Eltern hatten sich mit ihr lange unterhalten. Der Vater hatte von seiner Kindheit und Jugend berichtet. Sie erkannten, dass sie trotz ihrer Unterschiede eine Familie waren und sich liebten

Und Mia hatte noch einiges über ihre Oma erfahren, dass sie bisher nicht wusste. Ihre Großmutter war eine starke und unabhängige Frau gewesen. Sie war in einer kleinen Dorfgemeinschaft aufgewachsen, in der die Menschen eng verbunden waren. Es war ihr schon früh klar, dass die Natur und die Gemeinschaft wichtig sind. Als sie jung war, ging sie viel auf Reisen und lernte andere Kulturen und Menschen kennen. Dies hatte sie stark geprägt und ihr ein tiefes Verständnis für die Welt und ihre Bewohner gegeben. 
Das Leben stellte ihr viele Aufgaben und Herausforderungen, die sie scheinbar unbeschadet bewältigte. Zuerst musste sie den frühen Tod ihrer Eltern erleben. Ihr Vater starb nach einem Verkehrsunfall, die Mutter etwas später an gebrochenen Herzen. Ihr Ehemann verliebte sich in eine Kollegin und verließ die kleine Familie. Sie war gezwungen, ihren Sohn allein großzuziehen. Das Geld war in dieser Zeit immer knapp und ihr Leben materiell beschränkt. Diese Erfahrungen lehrten sie, dass das Leben nicht immer leicht ist, aber dass es sich lohnt, es zu leben. Sie fand immer etwas, wofür sie dankbar war und was sie glücklich machte. Nie hörte sie auf zu lernen, zu lieben und zu lachen, selbst als das Alter ihr natürliche Grenzen setzte. In Mia erkannte sie ihren Spiegel, ihren größten Schatz im Leben, auf den sie stolz war und den sie liebte.




© 2023 - Hans Jürgen Groß

Zusammenfassung: 
Mia besucht mit ihren Eltern das Grab ihrer verstorbenen Oma auf dem Friedhof. Sie vermisst ihre Oma sehr. Jedoch ist sie enttäuscht darüber, wie ihre Eltern mit dem Thema Tod der Großmutter umgehen. Sie erinnert sich an die lebensbejahenden Erzählungen ihrer Oma, die ihr das Leben als eine Einheit von Gegensätzen gelehrt hat.

Eine Erzählung über das Leben und den Wandel, in der Mia in der Rückschau der Erinnerung ihre Sicht auf die Welt und das Thema Tod reflektiert. Eine berührende Geschichte über Gegensätze, den Tod und die Essenz des Lebens.


Anmerkung:
Der Totensonntag, oder auch Ewigkeitssonntag, der hier in der Geschichte beschrieben wird, ist ein evangelischer Gedenktag. Er wird am letzten Sonntag im Kirchenjahr, Ende November, gefeiert. Der Ewigkeitssonntag hat seinen Ursprung in der protestantischen Kirche im 16. Jahrhundert. Er wurde von dem Theologen Philipp Melanchthon vorgeschlagen und von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen im Jahr 1816 eingeführt. Der Ewigkeitssonntag wurde zunächst nur in einigen Regionen Deutschlands gefeiert, breitete sich aber später in ganz Europa und in anderen Teilen der Welt aus. Durch die Reformation hatten die Feiertage Allerheiligen und Allerseelen für die evangelischen Christen ihre Bedeutung verloren. Der neue Gedenktag ermöglichte es ihnen, ihren Toten zu gedenken. Die Feiertage des November knüpfen unmittelbar an die vorchristlichen Erntedank- und Ahnenverehrungsfeste an. Der Gedenktag gehört zu den sogenannten "stillen Tagen", an denen, gesetzlich geregelt, jegliche öffentliche Unterhaltungsveranstaltungen, und damit auch Tanzveranstaltungen verboten sind.


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