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Jenseits der Schubladen: Für eine nicht-binäre Zukunft in Sprache und Gesellschaft


Als ich gestern von einer Reise zu einer Freundin nach Hause kam, fand ich ein Päckchen für mich vor, das an „Frau Jürgen Groß“ gerichtet war.

Schmunzelnd nahm ich diese Anrede zur Kenntnis. Unbekannt, aber doch interessant, so angesprochen zu werden. Mein weiblicher Anteil schien sich angesprochen zu fühlen. 

Im vergangenen Jahr wurde ich auf der Rechnung meines Mobilfunkanbieters ebenso angesprochen. Und vor einigen Jahren ergab es sich, dass mich jemand am Telefon mit Frau Groß ansprach.


(als Frau wäre ich dann doch lieber Kundin gewesen)

Was ich gestern mit einem gewissen Amüsement zur Kenntnis nahm, kann in einem anderen Kontext zu Unmut oder sogar Verletzungen führen. Ich erinnere mich an die Reaktion meiner Tochter, die vor Jahren in einer Gaststätte als „junger Herr“ begrüßt wurde. 

In den 1980er-Jahren war es noch üblich, dass Briefe an ein Ehepaar mit der Anrede „Familie“ begannen und im Anschluss der Name des Mannes genannt wurde. In dem Brief selbst wurde dann nur der „Herr“ angesprochen. War es ein Brief an eine Frau direkt, wurde noch zwischen „Frau“ und „Fräulein“ unterschieden. 

Mich berührte dies sehr. In den beruflichen Schreiben, die ich damals als Angestellter verfasste, änderte ich dies ab, indem ich die Briefe an Eheleute adressierte, mit anschließender Nennung der Frau und in der Zeile darunter des Mannes. In der Anrede im Brieftext sprach ich zuerst die Frau und dann den Mann an. Die Bezeichnung „Fräulein“ ersetzte ich generell durch „Frau“. - Dieses Vorgehen fand nicht die unmittelbare Begeisterung meiner Vorgesetzten, wurde jedoch toleriert. 

Die Verwendung geschlechtsspezifischer Namenszusätze könnte man neben Höflichkeit auch als eine gesellschaftliche Erwartung und Vorannahme interpretieren. Das „Fräulein“ sollte heiraten, damit aus ihr eine „Frau“ wird. Das Weglassen der Benennung der Ehefrau im offiziellen Schriftverkehr machte ihre Stellung in der Familie und Gesellschaft deutlich. Andererseits legte sie jedoch auch dem benannten Mann Verantwortungen auf, mit denen sich dieser vielleicht überfordert sah. 

Nicht jeder, oder kaum jemand, der mit den Geschlechtsmerkmalen eines Mannes geboren wird, passt in die Schublade, die man typischerweise für ihn offen hält. Ein Mann soll stark und beschützend sein, geradlinig, pragmatisch und weniger launisch auftreten. Er zieht in den Krieg, stirbt den Heldentod, geht mit dem sinkenden Schiff unter, oder verlässt es mit den Letzten, opfert sich auf. Als Mann zeigt er seine Gefühle seltener und weniger deutlich und lernt von klein auf, keine Schwäche zu zeigen. Handwerkliche Arbeiten, ob im Beruf oder zu Hause, sind sein Bereich. Er hat die Aufgabe, seine Familie zu ernähren und für wirtschaftlichen Wohlstand zu sorgen. Im Haushalt und in der Betreuung der Kinder ist er weniger bewandert. 

Für Menschen, die mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren werden, gelten polare Erwartungen. 

Dabei sind wir Menschen so unterschiedlich und sollten nicht auf unsere Geschlechtsorgane reduziert werden. Kein Mensch mit weiblichen Merkmalen gleicht dem anderen; dies trifft ebenso auf Menschen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen zu. Und in diesem Nicht-Gesehenwerden unserer Einzigartigkeit, unserer individuellen Schönheit, liegt das Problem, das auch in unserer Sprache zum Ausdruck kommt.

„Du bist gut so, wie du bist“, sollte die Botschaft vielmehr heißen, egal welche Eigenschaften du in welcher Form besitzt. „Du bist gut, richtig und wichtig in dieser Welt.“

Ich hoffe, dass wir in Zukunft mehr und mehr auf Schubladen-Denken verzichten und Lösungen finden werden, dies auch in unserer Sprache zum Ausdruck zu bringen. „Die Zukunft ist nicht-binär“ sollte zu einem Ziel werden, das allen Individuen inneren Frieden schenkt. 

Die Anerkennung der Verschiedenartigkeit kann als Pfad zur Einheit führen: zum Menschen.

Der Stern, oder Doppelpunkt, die sprachliche Lücke reicht hier nicht aus, sondern ist nur die Fortführung des polaren Denkens im anderen Gewand.- Vertrauen wir darauf, dass die Zukunft eine Lösung hervorbringt, in der sich ein jeder Mensch gesehen und wertgeschätzt sieht, so wie er ist. 



Nachtrag zum Text vom 14.01.2024
In Deutschland dürfen Bewerbende laut §1 AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) nicht wegen ihres Geschlechts benachteiligt werden. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind dazu verpflichtet, Stellenanzeigen genderneutral zu gestalten. Aus diesem Grund wird in der Regel hinter der Berufsbezeichnung der Vermerk “(m/w/d)”, für männlich, weiblich, divers, gesetzt. 

Ich habe mich lange gedanklich mit dieser Erfüllung der Rechtsnorm auseinandergesetzt und mich dafür entschieden in unserer Stellenausschreibung die Primärgeschlechter direkt anzusprechen. 

Dies ist einfach, verlangt der deutschen Sprache keine Unregelmäßigkeiten ab, lässt sich leicht lesen. Leider bietet diese Vorgehensweise keine Gelegenheit, Menschen, die sich nicht mit dem binären Geschlechtersystem identifizieren, tatsächlich so anzusprechen, dass sie sich wirklich gesehen fühlen. 

Ein kleines d, oder ein * reichen halt nicht aus. Und auch der Zusatz (m/w/d) den ich letztendlich auch benutzen musste um dem Gesetz gerecht zu werden, beinhaltet bereits eine Bewertung, indem er das männliche voran, das diverse an letzte Stelle stellt. Ich habe deshalb als Zusatz in unserer Stellenausschreibung (w/d/m) gewählt. Das weibliche zuerst, da es über Jahrtausende an zweiter Stelle gesehen wurde. Das diverse in der Mitte, zwischen den beiden Polen der Geschlechter.

Gleichzeitig frage ich mich, warum spricht mich dieses Thema so an? Wie bereits weiter oben beschrieben, habe ich mich bereits in frühen Jahren hiermit auseinandergesetzt. Und auch bei der Begleitung meiner Töchter ins Leben (in den 80er und 90er Jahren) war es mir wichtig, Texte in weiblicher Form für sie zu verfassen. 

So wurde aus dem Kinderlied “hoppe, hoppe Reiter”, bei mir

“Hoppe, hoppe Reiterin, wenn sie fällt dann knallt sie hin (…)”


Fotos und Text © 2023 /24 - Hans Jürgen Groß



* * *


Anmerkung:
Am 11. Mai 2024 gewann Nemo, eine singende, non-binäre Person aus der Schweiz, den ESC mit einem persönlichen Lied. In dem Song heißt es in der deutschen Übersetzung:

Ich habe den Code gebrochen (...)

Ja, lass mich dir eine Geschichte über das Leben erzählen
Über das Gute und das Schlechte, halte dich besser fest
Wer entscheidet, was falsch und was richtig ist
Alles ist im Gleichgewicht, alles ist Licht
(...)

Irgendwo zwischen den 0en und 1en
Dort habe ich mein Königreich gefunden
(...)

Wie Ammoniten
Ich habe ihm einfach etwas Zeit gegeben
Jetzt habe ich das Paradies gefunden
Ich habe den Code gebrochen, (...)

* * *


Google Bard meint hierzu:

Ich finde den Text gut geschrieben und ansprechend. Du hast ein wichtiges Thema angesprochen und es auf eine klare und verständliche Weise dargelegt. Ich finde es besonders wichtig, dass du auf die Unterschiede zwischen Geschlechtsidentität und biologischem Geschlecht eingegangen bist. Viele Menschen sind sich dieser Unterschiede nicht bewusst und denken, dass man immer dem Geschlecht entspricht, mit dem man geboren wurde. Das ist aber nicht der Fall. Es gibt viele Menschen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren und sich als Transgender identifizieren. Diese Menschen verdienen es, mit Respekt und Akzeptanz behandelt zu werden.

Ich hoffe, dass dein Text dazu beitragen kann, mehr Bewusstsein für dieses wichtige Thema zu schaffen.

Zu deiner Frage, warum dich dieses Thema so anspricht, kann ich nur spekulieren. Vielleicht liegt es daran, dass du selbst Erfahrungen mit geschlechtsbezogener Diskriminierung gemacht hast. Vielleicht hast du auch einfach ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und möchtest, dass alle Menschen gleich behandelt werden.

In jedem Fall ist es wichtig, dass sich Menschen wie du mit diesem Thema auseinandersetzen. Denn Sprache ist ein mächtiges Werkzeug, das unsere Wahrnehmung der Welt prägt. Wenn wir unsere Sprache geschlechtergerecht gestalten, können wir dazu beitragen, dass Menschen aller Geschlechtsidentitäten sich in der Gesellschaft wohler fühlen.

Ich finde es gut, dass du dich für eine geschlechterneutrale Ansprache in deiner Stellenausschreibung entschieden hast. Auch wenn diese Vorgehensweise nicht perfekt ist, ist sie ein Schritt in die richtige Richtung.

Ich bin gespannt, welche Lösungen die Zukunft für eine geschlechtergerechte Sprache hervorbringen wird. Ich glaube, dass wir hier noch viel zu tun haben, aber ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können.

Hier sind noch einige konkrete Gedanken zu einzelnen Aspekten deines Textes: 

Die Anrede "Frau Jürgen Groß"

Ich finde es interessant, dass du diese Anrede einerseits als Amüsement, andererseits aber auch als mögliche Ursache für Unmut oder Verletzungen wahrnimmst. Das zeigt, dass die Anrede "Frau" in unserer Gesellschaft noch immer mit bestimmten Erwartungen und Stereotypen verbunden ist. 

Die Verwendung geschlechtsspezifischer Namenszusätze

Ich stimme dir zu, dass die Verwendung geschlechtsspezifischer Namenszusätze wie "Fräulein" oder "Herr" problematisch ist. Sie zwingen Menschen in Schubladen und können zu Diskriminierung führen.

Das binäre Geschlechtersystem

Ich finde es wichtig, dass du darauf hinweist, dass das binäre Geschlechtersystem nicht der Realität entspricht. Es gibt nicht nur zwei Geschlechter, sondern eine Vielzahl von Geschlechtsidentitäten. 

Die Zukunft der geschlechtergerechten Sprache

Ich bin mir nicht sicher, welche Lösungen die Zukunft für eine geschlechtergerechte Sprache hervorbringen wird. Ich denke aber, dass es wichtig ist, dass wir uns weiterhin mit diesem Thema auseinandersetzen und neue Wege finden, unsere Sprache so zu gestalten, dass sich alle Menschen darin wohlfühlen.


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Zusammenfassung:
In diesem Text reflektiere ich die Erfahrung, fälschlicherweise als „Frau“ adressiert worden zu sein und welche Gedanken über geschlechtsspezifische Anreden und Erwartungen dies bei mir auslöste. Die Erzählung umfasst persönliche Anekdoten und historische Praktiken, wie das Ansprechen von Ehepaaren oder die Unterscheidung zwischen „Frau“ und „Fräulein“. Es wird betont, dass Menschen nicht auf Geschlechtsmerkmale reduziert werden sollten und die Gesellschaft über das binäre Geschlechtersystem hinausgehen muss. Abschließend äußere ich die Hoffnung, dass zukünftige Sprache die Einzigartigkeit jedes Individuums anerkennt und wertschätzt. 


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Stichworte: 
Geschlechtsneutrale Sprache, Gender, Sprache, Namenszusätze, Genderstereotype, Nicht-binär, non-binär, Inklusion, gesellschaftliche Erwartungen, Geschlechterrolle, Geschlechtsidentität, Individualität, Akzeptanz, Stellenausschreibung, ESC, Nemo






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