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Was dein Herz begehrt - oder: Von der (Wieder-)Entdeckung des Lebenssinns


Paul lebte allein in einem kleinen Haus, am Rande der Stadt. Er war Witwer und seine Kinder waren vor langer Zeit in die Welt hinausgezogen. Zu seinem Geburtstag riefen sie ihn an, doch Jahr um Jahr merkte er, wie wenig sie sich zu erzählen hatten. Paul fühlte sich oft einsam und nutzlos. Er hatte das Gefühl, dass sein Leben keinen Sinn mehr hatte und dass er nur noch auf den Tod wartete.

Eines Tages bekam er einen Brief von seinem alten Schulfreund Manfred. Sie hatten sich beide schon lange nicht mehr gesehen und keinerlei Kontakt zueinander gehabt. Paul traute sich zuerst nicht, den Brief zu öffnen. Sein Geist schenkte ihm negative Phantasien von Tod und Verlust, die ihm hier berichtet werden könnten. Er musste all seinen Mut zusammennehmen, um den Brief zu öffnen.

Manfred berichtete auf mehreren Seiten davon, dass er ein Haus am Meer gekauft hatte und dort eine schöne Zeit verlebte. Häufig dachte er an ihre gemeinsame Kindheit und Jugend zurück und sein Bedürfnis danach war groß, ihn zu treffen und der alten Zeit gedanklich nachzuhängen. Abschließend lud er ihn in sein Haus am Meer ein.

Paul fühlte sich von der Einladung überfordert. Die Vorstellung, ans Meer zu fahren, machte ihm Angst. Die lange Fahrt im Auto traute er sich nicht mehr zu und mit dem Zug war er das letzte Mal vor über 30 Jahren gefahren. Wo bekam man heute eine Fahrplanauskunft und wo wurden die Fahrkarten gekauft? All diese organisatorischen Dinge erschienen ihm wie mächtige Berge, die es zu überwinden galt. Er traute sich all dies nicht zu. Warum hatte Manfred ihm nur diesen Brief geschrieben? Aber heute musste er nicht reagieren, Manfred wusste ja nicht, wie lange der Brief unterwegs gewesen war.

In der kommenden Nacht schlief Paul schlecht. Er lag lange wach und dachte an Manfred und das gemeinsam Erlebte. Morgen würde er sich eine Ausrede einfallen lassen, um die Einladung abzusagen. Hierin hatte er Erfahrung und konnte seiner Phantasie vertrauen.

Am nächsten Morgen setzte er sich an sein Pult und begann zu schreiben. Doch anstatt mit einer Lüge, seine Unabkömmlichkeit zu belegen, schrieb er zum ersten Mal über seine Ängste und wie ihn die Einladung überfordert hatte. Er war selbst von sich überrascht, wie offen und ausführlich er hier seine Situation beschrieb. Es täte ihm leid, aber aus diesen Gründen könne er nicht kommen, endete er. Der Brief war schnell kuvertiert und verschickt.

Paul fiel ein Stein vom Herzen. Nun konnte er seinen Lebensgang wie gewohnt fortsetzen. Doch in den folgenden Stunden und Tagen dachte er immer wieder an die abgesagte Einladung zurück. Hatte er hier einen Fehler gemacht? Aber er konnte ja nicht anders. 

Umso mehr freute er sich, als er nach knapp einer Woche einen weiteren Brief von Manfred erhielt. Schnell war dieser geöffnet. Zu seiner großen Verwunderung hatte Manfred ihm einige Zugverbindungen herausgesucht und bereits eine Fahrkarte beigelegt.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Paul spürte die Zerrissenheit in seiner Brust. Er spürte die Angst vor dem Unbekannten, die ihn schier lähmte und nahm gleichzeitig die Verpflichtung zu Manfred wahr, die sich aus dem letzten Brief ergab. Warum wurde er von dem Leben so gefordert? Könnte denn nicht alles so wie immer sein?

Wieder verbrachte er eine unruhige Nacht und hing seinen Erinnerungen an unbeschwerte Kindheitsjahre nach. Letztendlich obsiegte die Pflicht, die Erwartung des Freundes zu erfüllen, über die Unsicherheit und er packte seinen Koffer. Je näher der Abreisetag kam, umso unruhiger wurde er. Die Nacht vor der Abreise verbrachte er schlaflos im Bett.

Als er am Bahnhof ankam, war er überrascht, wie viele Menschen dort waren. Er fühlte sich verloren und überfordert. Er suchte nach seinem Zug und fand diesen schließlich. Er stieg ein und suchte sich einen Platz am Fenster eines Großraumwagens. Wie anders die Züge doch waren, als er sie in Erinnerung hatte. Alles schien ihm enger und unbequemer geworden zu sein. Er erinnerte sich an den Geruch der roten Kunststoffbezüge der alten Wagen, an die leichten Unebenheiten, wenn man hierüber strich. An die messingfarbenen Kofferhalterungen über den Sitzen. An Fenster, die man zur Hälfte herunterschieben konnte. Den zumeist vollen Abfallbehälter unterhalb des Fensters und den Zigarettengeruch im Raum.

Er schaute nach draußen und sah die Landschaft an sich vorbeiziehen. Er dachte an seine Vergangenheit und an all die Dinge, die er erlebt hatte. An seine Frau, die er sehr geliebt hatte und die vor fünf Jahren gestorben war. An seinen Beruf als Schriftsetzer, den er immer gerne ausgeübt hatte, bis er verrentet wurde. An die Hobbys, die er nach und nach aufgegeben hatte, weil er keine Freude mehr an ihnen empfand.

Er seufzte und schloss die Augen. Er fragte sich, was ihm bevorstand. Sein Geist zeigte ihm ein düsteres Bild von einem langsamen Dahinsiechen in einem Pflegeheim. Wenn er Glück hatte, würde er sich im Meer des Vergessens verlieren.

Nach ein paar Stunden Fahrt mit ungezählten Halten kam er am Zielbahnhof an. Er stieg aus dem Zug und sah sich um. Er glaubte die salzige Meerluft riechen und das Rauschen der Wellen hören zu können. Er spürte eine leichte Brise auf seiner Haut. Unmittelbar zeigten sich ihm Bilder vor dem geistigen Auge: er als junger Mann mit seinen Kindern unbeschwert am Strand tobend.

Er ging zum Ausgang und sah seinen Freund auf ihn warten. Er erkannte ihn sofort, obwohl er ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er schien älter geworden zu sein, aber gleichzeitig umgab ihn die vertraute Fröhlichkeit und Lebendigkeit, die Manfreds Wesen von Kindheit an prägte.

Sie begrüßten und umarmten sich herzlich. Ohne Worte hierüber zu verlieren ergriff Manfred Pauls Koffer und führte ihn zu seinem Auto. Sie fuhren zu dem Ferienhaus, das direkt am Strand lag. Es war ein kleines, gemütliches Haus mit einem Garten voller Blumen. Manfred zeigte Paul sein Zimmer, welches einen Blick auf das nahe Meer freigab.

Im Angesicht der Weite des Horizontes und der Wildheit des Meeres fiel alle Schwere, Angst und Enge der letzten Tage von Paul ab. Er spürte, wie seine Herzregion sich zu öffnen begann und wie seine Lungen die frische Meeresluft sehnsuchtsvoll aufsaugten.

Nach dem Essen lief er an der Spülkante der Wellen entlang, während Manfred eine Auszeit nahm, wie er es formulierte und etwas schlief. Bei seiner Rückkehr wartete Manfred bereits auf Paul. Er nahm ihn mit in sein Wohnzimmer, wo ein großes Gemälde an der Wand hing. Es zeigte eine Szene aus ihrer Kindheit: Sie beide als kleine Jungen, wie sie auf einem Feld Fußball spielten. Manfred erzählte, dass er das Bild selbst gemalt hatte. Er berichtete davon, wie er nach seiner Verrentung angefangen hatte zu malen und wie es ihm half, seine Gefühle auszudrücken und seine Kreativität zu entfalten.



Er fragte Paul, ob er es einmal versuchen wolle. Er habe alles da, was er brauche: Farben, Pinsel, Leinwände. Paul war von diesem Ansinnen an ihn verblüfft. Er spürte, wie sein Herz sich verengte und wie die Unsicherheit wieder in ihm aufstieg. Er hatte noch nie gemalt und glaubte, dass er kein Talent hierfür hatte. Manfred lächelte ihn an und sagte: „Lass einfach dein Herz sprechen.” Etwas missmutig nahm Paul den Pinsel in die Hand und tauchte ihn in die Farbe. Er führte ihn zur Leinwand und machte einen Strich. Es fühlte sich seltsam und unsicher an. Er wusste nicht, was er malen sollte.

Er schaute seinen Freund an, der ihn ermutigend anlächelte. Die Zeit verging, ohne dass Paul den Pinsel erneut auf die Leinwand setzte. Er stand einfach nur da, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sein Herz und spürte dessen Regung. Dann legte er den Pinsel an seinen ursprünglichen Platz zurück, verließ sprachlos den Raum und ging auf sein Zimmer. Manfred schaute ihm fassungslos nach. Er hörte, wie Paul die Treppe wieder herunterkam und das Haus verließ.

Was geschah hier? Was hatte er falsch gemacht? Er erkannte, dass er Paul etwas von sich hatte geben wollen, was unter Umständen nicht zu diesem gehörte. Dabei hatte er es doch nur gut gemeint mit dem alten Freund. Er war davon ausgegangen, dass beide die gleiche Sicht auf die Welt verband. Und wenn er, Manfred, Sinn im Malen fand, dann könne dies doch auch Paul helfen, seinem Verlies aus Angst und Schwere zu entfliehen. Und nun war er fortgelaufen, ohne ein Wort zu sagen. Wo war er hin? Er kannte sich ja hier nicht aus. Unsicher und voller Selbstvorwürfe setzte sich Manfred in die Küche und wartete auf Pauls Rückkehr. Doch Paul kehrte nicht zurück.

Gefühlte Stunden später machte sich Manfred auf die Suche nach Paul. Er suchte den Strand in der Nähe des Hauses ab, doch er konnte Paul nicht entdecken. Schritt um Schritt, trieb es ihn weiter den Strand entlang, ohne ihn zu finden. Endlich nahm er von Ferne eine Gestalt wahr, die auf einer Bank saß und mit etwas beschäftigt schien. Und ja, es war tatsächlich Paul, der dort saß und schrieb. Erleichtert, doch mit einem schlechten Gewissen belastet, näherte sich Manfred ihm. Als Paul ihn wahrnahm, rief er ihn freudig zu sich. Voller Lebensfreude las er Manfred vor, was er geschrieben hatte. Es war die Geschichte von den beiden Jungen auf Manfreds Bild. Sie erzählte von den Freunden, die sich am Morgen in der Schule gestritten hatten und am Nachmittag wieder vertraut gemeinsam Fußball spielten. Sie beschrieb die Stimmung des Tages. Erzählte davon, dass die Sonne schien. Sie beschrieb den Ball in all seinen Einzelheiten: Von den weißen und schwarzen Lederstücken, wie sie miteinander vernäht waren und wie es sich angehört hatte, wenn man gegen den Ball trat. Von der Leichtigkeit und Unbeschwertheit dieses Augenblicks. Von all dem, was Manfred in seinem Bild zum Ausdruck gebracht hatte, halt nur in Worte gefasst.

Paul erklärte, dass er an all dies gedacht habe, als er vor der leeren Leinwand stand, doch er konnte dem keinen Ausdruck schenken. Als er sich mit seinem Herzen verband, habe er erkannt, dass er all dies aufschreiben müsse. Es könnte zwar nur eine Essenz der Wirklichkeit sein, so wie ein Bild auch, doch es schien seine Aufgabe zu sein, all diesen längst vergangenen Erfahrungen eine Zukunft zu schenken. Wie alle Menschen verbinde ihn ein Stück gelebte Vergangenheit mit der Zukunft und er wolle all diesen Lebensschätzen einen Platz für künftige Generationen geben. Egal ob seine ungeborenen Enkelkinder oder irgendjemand anders dies lesen würde. Und auch dann, wenn niemand es las, war es wichtig für ihn und für sein Leben. Daran habe ihn sein Herz gemahnt. Er habe endlich den Sinn für die ihm verbleibende Zeit gefunden. Und hoffentlich bliebe ihm noch zahlreich hiervon, denn er stecke voller Geschichten, die es aufzuschreiben und zu erzählen galt, schloss Paul die Beschreibung seiner Erkenntnis ab.

Überschwänglich dankte er Manfred für seine Freundschaft und seine Anregung, mit dem Herzen zu schauen. Die beiden lächelten sich an und verstanden einander. „Weißt du was?“, sagte Manfred zu seinem Freund. „Von nun an male ich die Bilder zu deinen Geschichten und du erzählst die Geschichten zu meinen Bildern.“



© 2023 - Hans Jürgen Groß


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