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Meer der Erkenntnis: Eine heilende Begegnung auf der Suche nach dem Sinn

Tobias saß in sich versunken auf einer Bank und blickte auf das Meer. Er spürte, wie die frische Brise ihm ins Gesicht wehte. Es fühlte sich an, als ob die Wildheit und Weite des Meeres ihn befreite. Der Blick in die Unendlichkeit gab ihm ein Gefühl der Perspektive. Er atmete tief durch und fühlte sich ein Stück weit wieder lebendiger. 

Er war hierher geflohen, hatte die erste Fähre am Morgen genommen, um auf diese Insel zu kommen. Seit mehreren Wochen konnte er nicht mehr schlafen. Der Alltag fraß ihn auf. Wie sollte er all dies schaffen, was sich da gerade in seinem Leben zeigte? Seine Freundin hatte ihn verlassen. Nun war er allein in der gemeinsamen Wohnung. Wusste nicht, wie er die Miete bezahlen sollte. Der Job ödet ihn an. 8 Stunden Lebenszeit am Tag, scheinbar vergeudet. Die Kolleginnen und Kollegen schnitten ihn, zeigten ihm, dass er anders war; grenzten ihn aus. Er war jetzt 38 Jahre alt. Schon! Was blieb noch vom Leben? Wie viel Jahre waren ihm noch geschenkt? Und dann dieser Druck in der Magengegend. Könnte dies etwas Schlimmes sein? Zum Arzt traute er sich nicht, da dieser ihm sagen könne, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hätte. Dann lieber nichts davon wissen und einfach sterben. Wie schnell doch die Zeit verging, gestern hatte er doch noch studiert. Und inzwischen war er fast vierzig. Und erst die Welt dort draußen und ihr Geschehen. Kein Wunder, dass er nicht schlafen konnte. Das regelmäßige Bier am Abend brachte längst keine Erleichterung mehr. 

Als Tobias die Gestalt am Strand bemerkte, die sich scheinbar tanzend fortbewegte, erinnerte er sich daran, dass die Flucht ans Meer sein letzter Notanker gewesen war. Immer wieder kreisten diese Gedanken in seinem Kopf herum, während die Gestalt immer näher kam und von ihm schließlich als eine alte Frau in einem bunten Kleid erkannt wurde, die fröhlich vor sich hin sang. Obwohl die Frau offensichtlich sehr alt war, tanzte und sang sie voller Lebensfreude.

Trotz seiner inneren Unruhe überwand Tobias seine Angst und wünschte der alten Frau einen schönen Tag, als sie an ihm vorbeikam. Die Frau lächelte ihn freundlich an und fragte, was ihn bedrücke. Zunächst wollte Tobias nicht reden, aber die Frau, die sich ihm als Maria vorstellte, schaffte es, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, indem sie ihm das Gefühl gab, dass er sich ihr öffnen konnte.

Sie hörte ihm aufmerksam zu, während er ihr von seinen Problemen erzählte. Maria nickte verständnisvoll und sagte dann: „Ich weiß, wie du dich fühlst. Das Leben kann manchmal hart sein, aber es ist wichtig, dass du dich nicht unterkriegen lässt. Du musst aufstehen und weitermachen.“

Tobias war fasziniert von Marias Gelassenheit und begann sie zu fragen, wie sie es schaffe, so glücklich zu wirken. Maria erklärte ihm, dass das Leben ein unendlicher Strom sei, der durch uns fließe, und dass wir nur einen Bruchteil davon wahrnehmen könnten. Sie erklärte ihm, dass die Vorstellung von Zukunft und Vergangenheit nur Konstrukte unseres Geistes seien und dass alles, was wirklich zähle, der Augenblick sei, den es bewusst und ohne Vorannahmen gewahr zu nehmen galt. Tobias war zunächst skeptisch, aber je mehr er über Marias Worte nachdachte, desto mehr begann er zu verstehen.

Er schaute sie verwundert an. Wie konnte diese alte Frau ihm solche Weisheiten vermitteln? Doch Maria fuhr fort: „Siehst du die Wellen da draußen? Sie kommen und gehen, aber das Meer bleibt immer gleich. So ist auch das Leben. Es gibt Höhen und Tiefen, aber alles ist in einem ständigen Gleichgewicht. Es ist deine Entscheidung, ob du den Schatten oder das Licht sehen willst. Wenn du dies erkennst, dann kannst du alles erreichen, was du willst. Sage dir einfach: ’Ich bin’, und erkenne, dass alles gut so ist, wie es gerade ist. Mehr braucht es nicht im Leben.“ 

Je länger sie miteinander redeten, um so mehr spürte Tobias, wie sich langsam eine Last von ihm abzulösen begann. Er fühlte sich verstanden und konnte zum ersten Mal seit Wochen wieder lächeln. Maria lud ihn ein, mit ihr spazieren zu gehen und die Insel zu erkunden. Sie zeigte ihm die schönsten Plätze und erzählte ihm Geschichten über die Menschen, die hier lebten.

Am Ende des Tages saßen sie wieder am Strand und schauten auf das Meer. Tobias spürte, wie viel Kraft er durch Marias Gesellschaft gewonnen hatte. Er fühlte sich innerlich gestärkt und wusste, dass er wieder den Mut hatte, sich seinen Herausforderungen zu stellen.

„Danke, Maria“, sagte er leise. „Ich weiß nicht, wie ich dir jemals genug danken kann.“

Maria lächelte und legte ihre Hand auf Tobias Schulter. „Das Leben gibt uns manchmal schwere Prüfungen. Aber wir können sie meistern, daran sollten wir uns immer erinnern. Alles ist im Gleichgewicht, und wir selbst entscheiden, welchen Wert wir den Ereignissen zumessen. Lasse ich mich in das Leid fallen oder nutze ich die Chancen, die sich darin verstecken?“

„Dank gebührt heute dir, Tobias“, sprach sie weiter. „Einst saß ich wie du auf einer Bank, als mir jemand Sinn für mein Leben schenkte. Als Dank versprach ich ihm, all das Gute, das er mir damit getan hatte, irgendwann an jemand anderen weiterzugeben. Du hast mich heute von dieser Verpflichtung befreit.“

Tobias spürte, wie sehr ihn Marias Worte berührten. Er wusste, dass er nicht allein war und dass er Hilfe annehmen und auf seine inneren Kräfte vertrauen konnte, um sein Leben in die Hand zu nehmen und glücklich zu sein. Er hatte erkannt, dass Leben nur in einer angemessenen Balance von Aktivität und Hingabe möglich ist. Er spürte, dass er alles Notwendige in sich trug und dass es an ihm lag, es in Einklang zu bringen, um sein Leben in Fülle und Glück zu leben. Irgendwann in ferner Zukunft, nach erworbener Meisterschaft, würde er das heute erhaltene Geschenk weitergeben. 




Text, Foto, Audio © 2023 - Hans Jürgen Groß

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