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"Männer und Frauen sind gleichberechtigt - Elisabeth Selbert, eine biografische Betrachtung

Im Rahmen meiner Ausbildung zum Biografieberater setzte ich mich ausführlich mit der Biografie von Frau Dr. Elisabeth Selbert auseinander, welche als eine der Mütter des Grundgesetzes gilt. Im Nachfolgenden wird ein Auszug aus meiner biografischen Analyse von Elisabeth Selbert wiedergegeben. Der Schwerpunkt der Betrachtung zeigt weniger die Politikerin, sondern vielmehr die Person Elisabeth Selbert. Die biografischen Daten wurden einem Buch der hessischen Landesregierung entnommen (siehe Literaturhinweis), welche das politische Wirken von Frau Selbert in den Vordergrund stellt, in Nebensätzen und Anmerkungen die Person hinter der Politikerin erkennen lässt. 




Geburt und Kindheit

Martha Elisabeth Selbert (geb. Rhode) wurde am 22.09.1896 als zweite von vier Töchtern in Kassel geboren. Sie erblickte im Sternzeichen Jungfrau das Licht der Welt.

Kassel ist zu diesem Zeitpunkt die Hauptstadt der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Viele Bewohner der Stadt trauern den Zeiten nach, in denen Kassel Hauptstadt des Kurfürstentums Hessen-Kassel war; dies liegt zum Zeitpunkt von Elisabeths Geburt 30 Jahre zurück. Seit dieser Zeit hat sich die ehemalige Residenz zu einer Beamtenstadt entwickelt. Kaiser Wilhelm II erklärte Kassel (Schloss Wilhelmshöhe) ab 1891 offiziell zu seiner Sommerresidenz. Das deutsche Kaiserreich ist zum Zeitpunkt von Elisabeths Geburt 25 Jahre alt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, zu dem Zeitpunkt von Elisabeth Rohdes Geburt, überschritt die Einwohnerzahl der Stadt die 100.000-Grenze, Kassel wurde somit zur Großstadt. Die Stadt litt unter einem großen Wohnungsmangel, auch war die Qualität des Wohnraums in der Kasseler Altstadt eher schlecht, was ebenfalls für den Geburtsort von Elisabeth Selbert zutraf.

Elisabeth wird in ein christlich orientiertes, von ihr selbst als bürgerlich, gelegentlich auch als kleinbürgerlich bezeichnetes Elternhaus hinein geboren. Der Vater Georg Rohde (*1867 in Niederzwehren) war gelernter Bäcker, später Soldat und seit einem Unfall Gefangenenaufseher. Er litt unter Depressionen. Er hatte Eva Elisabeth Sauer (*1870 in Sontra) geheiratet und mit ihr vier Töchter bekommen – als zweite Martha Elisabeth. Die Mutter ist Hausfrau. Die Großmütter von Elisabeth werden als starke Persönlichkeiten bezeichnet. Die Mutter ist dem Vater in vielen Dingen überlegen.

In ihrem vierten Lebensjahr erfolgte der Umzug von einem Hinterhaus in der Kasseler Unterneustadt, in eine kleine beengte Wohnung in der Leipziger Str.. Beide Wohnungen befanden sich in der Nähe des Arbeitsplatzes des Vaters, der sogenannten „Elve“, wo er als Gefangenenwärter für Jugendliche tätig war. 

Elisabeth war der Liebling des Vaters. In ihrer frühen Kindheit besuchte sie ihren Vater einige Male an der Arbeit, was sie selbst in späteren Jahren als Grund für ihre Hinwendung zur Rechtswissenschaft deutete.


Die Schulzeit

Im April 1903 erfolgte die Einschulung in die Volksschule. Da die ältere Schwester Maria eine weiterführende Schule besuchte, fehlt das Geld um Elisabeth ebenfalls auf eine höhere Schule zu schicken. Da Elisabeth bereits in jungen Jahren nach Wissen strebt, besteht die einzige Möglichkeit für sie darin, durch eine Begabtenprüfung in den Genuss einer Schulgeldbefreiung zu kommen. Sie legt eine solche Prüfung mit Erfolg ab, sodass einem Schulwechsel zur Amalienschule, einer Mittelschule für Mädchen, im April 1907 nichts mehr im Wege steht. Im gleichen Monat wird die  Schwester Minna geboren. Im Jahr 1909 folgt die Geburt der Schwester Käthe.

Über die Zeit des Schulbesuchs ist wenig bekannt. In den vorliegenden Aufzeichnungen wird über diese Jahre berichtet, dass die streng religiöse Erziehung ihres Elternhauses ihre sexuelle Entwicklung verunsichert habe.

Wie alle Mädchen muss Elisabeth die Realschule, im April 1912, ohne Zeugnis und mittlere Reife verlassen, was sie als ungerecht empfindet. Da die höhere Mädchenschule für die Familie nicht bezahlbar ist, besucht sie für ein Jahr die Kasseler Gewerbe- und Handelsschule des Frauenbildungsvereins.

Aus dieser Zeit ist bekannt, das Elisabeth viel liest. Sie beschäftigt sich zuerst mit Naturwissenschaften später mit Philosophie. Die Mutter sorgt dafür, dass die Tochter die Handarbeit nicht vernachlässigt. Gelder, welche ihr für die Aussteuer zur Verfügung stehen, verwendet sie für den Erwerb von Büchern.


Erste berufliche Schritte

Nach Beendigung der Handelsschule, im April 1913, steht die Berufswahl an. Elisabeth würde gerne Lehrerin werden, doch der Vater hat nicht das Geld für die Ausbildung. Da sie in der Schule Englisch und Französisch gelernt hat, beginnt sie eine Tätigkeit als Auslandskorrespondentin, bei der Firma Salzmann in Kassel. Durch den Beginn des ersten Weltkrieg gehen der Firma Salzmann zahlreiche Auslandsaufträge verloren, mit der Folge, das Elisabeth ihre Stelle verliert. Es folgen zwei Jahre Arbeitslosigkeit, welche Elisabeth mit ihrer Lieblingsbeschäftigung dem Lesen begegnet. Über sie wird in dieser Zeit berichtet, dass sie den Kontakt zu Männern außerhalb der Familie meidet, Angst vor Berührungen habe.

Nach einem Umzug der Familie zu den Großeltern väterlicherseits, nach Niederzwehren erhält sie im Jahr 1916 eine Anstellung als Postgehilfin in diesem Ort. Mit dieser Tätigkeit fühlt sie sich unterfordert. Niederzwehren ist zu diesem Zeitpunkt eine eigenständige Gemeinde an der Grenze zu Kassel.


Begegnungen und politische Arbeit

Im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit kommt es im Jahr 1918 zu einem ersten Kontakt mit dem Buchdrucker Adam Selbert, der in Niederzwehren bei seiner Tante lebt. Wie Elisabeth interessiert sich Adam für Literatur, Philosophie und kulturelle Fragen. Elisabeth erkennt in ihm einen Gleichgesinnten. Beide haben ein Abonnement für das Kasseler Theater. Adam gehört seit 1913 der SPD an. Im Zusammenhang mit der sich festigten Beziehung, nimmt er Elisabeth zu politischen Veranstaltungen der SPD mit. Er schenkt ihr das Buch “die Frau und der Sozialismus” von August Bebel, lehrt sie “politisch zu denken”.

1918 tritt Elisabeth in die SPD ein. Sie kandidiert im Winter 1919 für einen Sitz in Gemeindeparlament-Niederzwehren. Ihre politische Arbeit führt sie mit Philipp Scheidemann zusammen, der nach seinem Rücktritt als Reichsministerpräsident der Weimarer Republik, Oberbürgermeister der Stadt Kassel wurde. Bis zu seiner Flucht vor den Nationalsozialisten in das dänische Exil ist dieser mit den Selberts befreundet.


Familienbildung

Am 02.10.1920 heiraten Elisabeth und Adam in Niederzwehren. “Es war eine Neigungsehe” so äußert sich Elisabeth Selbert später zu ihrer Vermählung.

Ihren ersten Auftritt vor einem größeren Publikum erlebt sie bei der der Frauenkonferenz der SPD am 08.10.1920 in der Stadthalle Kassel, an der sie als Delegierte teilnimmt.

Im Jahr 1921 wird Elisabeth zum ersten Mal schwanger. Bis unmittelbar vor der Geburt ihres ersten Sohnes Gerhart, am 25.09.1921, arbeitet sie beim Telegrafenamt, deren Anstellung sie aufgibt.

Am 11.11.1922 wird der zweite Sohn Herbert geboren.

Wenige Tage nach der Geburt des zweiten Kindes erhält Adam eine Anstellung bei der Niederzwehrener Verwaltung. Er legt sein Mandat im kommunalen Landtag nieder.

Die Familie zieht innerhalb von Niederzwehren um. Elisabeth kümmert sich um den Haushalt und die Kinder.

1924, auf dem Parteitag der SPD in Berlin, spricht Elisabeth Selbert erstmals nach ihrer Familienpause wieder vor großem Publikum.

Beide Selberts verbindet der Wunsch, mit Hilfe der Sozialdemokratie den kleinbürgerlichen Beschränkungen ihrer Kindheit und Jugend zu entwachsen. Adam erkennt die Fähigkeiten seiner Frau und ist bereit diese auf Kosten der eigenen Möglichkeiten zu unterstützen und zu fördern.


Studienjahre

In 1925 legt Elisabeth ihre Gemeindearbeit nieder, um sich im Selbststudium für die Abiturprüfung vorzubereiten. 1926 legt sie an der Kasseler Luisenschule als erste Frau der Stadt die externe Abiturprüfung ab.

Im Anschluss an diese Prüfung beginnt sie das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Marburger Phillips Universität. Sie pendelt täglich von Kassel nach Marburg. Ab dem dritten Semester ist sie an der Georg August Universität in Göttingen eingeschrieben. Auch hier pendelt sie täglich mit dem Zug zu ihrem Studienort.

Die Selberts sind inzwischen in das Haus von Elisabeths Eltern in Niederzwehren umgezogen. Wochentags kümmern sich der Ehemann und die Eltern um die Kinder. Elisabeths Wochenenden gehören der Familie, dem Haushalt und der Studienvorbereitung.

Ihr erstes Staatsexamen legt sie am 26.10.1929 beim Oberlandesgericht in Kassel ab. Statt eines Referendariats beginnt sie umgehend mit der Arbeit an ihrer Dissertation. Der Titel der Doktorarbeit lautet: “Ehezerrüttung als Scheidungsgrund”. Die Arbeit wird später rückblickend als der Zeit voraus gewertet, und ihre Überlegungen werden 1977 rechtlich umgesetzt, ohne auf ihre Ausarbeitung zu gründen.

Die Arbeit wird mit “gut” bewertet. Im Gesamtergebnis nach der mündlichen Prüfung schließt sie mit einem “ausreichend” ab. Am 10. Juli 1930 wird ihr die Würde eines Dr. der Rechtswissenschaften verliehen. Ihre Dissertation ist ihrem Ehemann und ihren Söhnen “in Liebe” gewidmet.

Im Anschluss an ihre Promotion absolviert sie ein Referendariat in Kassel.

Im Mai 1930 besteht Adam Selbert die Prüfung für Beamte im mittleren Dienst. Er engagiert sich als stellvertretender Bürgermeister in der Kommunalpolitik.

Anfang der 30er Jahre ziehen die Selberts von Niederzwehren in die Rothenberg-Siedlung im Kasseler Stadtteil Rothenditmold um.


NS-Zeit

Am 5. März 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Bei den vorangehenden Reichstagswahlen kandidiert Elisabeth Selbert für die SPD, doch der Einzug in das Parlament gelingt ihr nicht.

Zwischen dem ersten und zweiten Staatsexamen erleidet Elisabeth einen Nervenzusammenbruch und muss 6 Monate pausieren. Der genaue Zeitpunkt des Zusammenbruchs ist zeitlich nicht genau belegt.

Im Dezember 1933 (oder April 1934) wird Adam von den Nationalsozialisten entlassen und in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Bis zum Ende des Krieges geht er keiner Beschäftigung mehr nach. Seine Pension reicht bei Weitem nicht für den Unterhalt der vierköpfigen Familie aus. Die Versorgung der Familie liegt nun überwiegend in Elisabeth Händen.

Am 29. Juni 1933 wird Adam in Schutzhaft in das Lager Breitenau in Guxhagen verschleppt, wo er für ca. einen Monat interniert wird. Er kehrt traumatisiert zurück.

Im Oktober 1934 legt Elisabeth ihr zweites Staatsexamen in Berlin ab, welches sie mit “befriedigend” besteht.

Durch den Zuspruch zweier älterer Richter erhält sie in Abwesenheit des übergeordneten Präsidenten des Oberlandesgerichts Kassel am 15. Dezember 1934 als letzte Frau in Deutschland die Zulassung zur Rechtsanwältin. Die beiden Richter müssen sich hierfür später juristisch verteidigen.

Von einem jüdischen Kollegen, der in der Folge auswandert, übernimmt sie offiziell die Bibliothek und Einrichtungsgegenstände und eröffnet im gleichen Monat ihrer Zulassung eine Anwaltskanzlei am Kasseler Königsplatz. Die Umstände dieser Gründung sind umstritten und geben Raum für Spekulationen, da sie die gesamte Kanzlei zweier jüdischer Kollegen übernimmt. Die aufgenommenen Darlehen, welche ihr Parteifreunde zur Verfügung stellten, zahlt sie ab 1935 zurück. Ihren Ehemann beschäftigt sie in den kommenden Jahren als Bürogehilfe, bis sich dieses Arrangement aus unbekannten Gründen auflöst.

In Interviews späterer Jahre erwähnt sie, wie sie die Rechtslage im Dritten Reich psychisch belastet habe.

Gleichwohl, oder vielleicht auch aus taktischen Überlegungen heraus, wird sie später Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, ihre Söhne werden Mitglied in der Hitler Jugend.

Ab Juli 1940 bis Oktober 1943 übernimmt sie die Vertretung von Kollegen, welche zum Kriegsdienst eingezogen wurden.

In diese Zeit fällt die Einberufung ihrer Söhne und deren Einsatz an der Ostfront.

Im März 1942 fällt ihr Schwager, mit 29 Jahren, im Krieg. Im November 1942 erfolgt ein weiterer Umzug innerhalb Rothenditmolds

Im Jahr 1943 wird bei Adam schwere Diabetes diagnostiziert, welche eine Spätfolge der Internierung ist.

Bei dem großen Luftangriff auf Kassel, am 22.10.1943, wird die Selbert´che Kanzlei vollkommen zerstört. Elisabeth Selbert hatte diese aufgrund einer mahnenden Warnung einer Mitarbeiterin erst kurz zuvor verlassen. Bei diesem Angriff kommen ca. 10.000 Menschen ums Leben.

In den folgenden Tagen und Monaten erfolgen weitere schwere Luftangriffe auf Kassel.

Als Folge der anhaltenden Luftangriffe auf Kassel zieht Elisabeth im September 1944 nach Melsungen in das Hotel Lindenlust um, wo sie mit Ehemann und Mutter bis zum Sommer 1945 lebt. Sie pendelt zwischen Melsungen und Kassel, um ihren beruflichen Terminen nachzugehen. Teilweise legt sie die 25 km zu Fuß zurück wenn wieder einmal die Züge ausgefallen sind.

Am Ostersamstag, dem 31. März 1945 war der Krieg in Melsungen zu Ende.

Am 4. April 1945 marschieren amerikanischer Truppen in Kassel ein und beenden auch hier den Kriegszustand. Elisabeth vermittelte aufgrund ihrer englischen Sprachkenntnisse zuerst in Melsungen dann in Kassel zwischen Sozialdemokraten und Amerikanern.


Politischer Neubeginn

Die Amerikaner verpflichten sie, wieder in die Politik einzutreten. Im Mai 1945 wird sie als Strafverteidigerin von der amerikanischen Militärgerichtsbarkeit zugelassen. Im Anschluss arbeitet sie im Ausschuss zur Neuordnung der Justizverwaltung in Kassel mit.

Im Sommer 1945 weisen die amerikanischen Militärs den Selberts eine Wohnung in der Kasseler Kaiserstraße, heute Goethestraße zu; im August 1945 nimmt Adam Selbert seine berufliche Betätigung in der Bezirkskommunalverwaltung wieder auf.

Elisabeth Selbert erhält im Oktober 1945 eine Zulassung zur Rechtsanwältin und Notarin.

Politisch ist sie nun wieder aktiv. Elisabeth gehört der „Verfassungberatenden Landesversammlung „Groß-Hessens“ an, welche vom 15. Juli bis 30. November 1946 in Wiesbaden tagt. Diese hat die Aufgabe, den Entwurf einer Verfassung des Landes Groß-Hessen auszuarbeiten. Die Sitzungen gehen wöchentlich von Dienstag bis Freitag. Übernachtet wird in Mehrbettzimmern. Die Fahrt erfolgt in überfüllten Zügen. Elisabeth Selbert wird von den Versammlungsteilnehmern als Verfasserin klarer Formulierungen geschätzt.

Im März 1948 erleidet sie einen „Herzanfall“, von dem sie sich im darauf folgendem August bei einer Kur in Bad Kissingen erholt.


Der verfassungsgebende parlamentarische Rat

In diese Zeit fällt ihr Versuch (Sommer 1948) ein Mandat für den verfassungsgebenden parlamentarischen Rat zu erhalten, welcher das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausarbeiten soll. Dies wird ihr zuerst von ihrer Partei zugesichert. Doch der SPD Bezirk Hessen Nord, dem sie angehört, nominiert zwei männliche Kandidaten. Sie hofft durch den Rücktritt des zweiten Nominierten eine Chance zu erhalten, doch dieser nimmt das Mandat an. Sie nutzt ihre Verbindungen zum SPD Frauenbüro beim Parteivorstand in Hannover. Während ihrer Kur in Bad Kissingen erhält sie Nachricht aus Hannover das der SPD Bezirk Hannover bereit sei, sie als Vertreterin des Landes Niedersachsen zu nominieren. Sie sagt umgehend zu. Diese Entscheidung wird durch den Einfluss des Parteivorsitzenden Kurt Schumacher erreicht, der sich für sie einsetzt. Sie ist eine von 4 Frauen der insgesamt 65 Teilnehmer. Der Parlamentarische Rat tagt vom 01. September 1948 bis Mai/Juni 1949 in Bonn.


Die Sternstunde

Gegen den Widerstand zahlreicher Personen aus eigener und anderer Partei gelingt es ihr das die Formulierung “Männer und Frauen sind gleichberechtigt” als Artikel 3 Abs. 2 in das Grundgesetz aufgenommen wird. Geplant war die rechtlich weit geringer greifende Formulierung der Weimarer Verfassung “alle Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten”.

In der ersten und zweiten Abstimmung über diese Formulierung wird der Antrag von Elisabeth Selbert abgelehnt.

Über die Parteigrenzen hinaus sucht sie nach Verbündeten für ihren Vorschlag. Dafür reist sie durch das Land, um Unterstützung für ihren Vorschlag zu finden und um einen Proteststurm der Frauen zu entfachen. Sie wendet sich an die Ehefrauen der CDU Mitglieder im Rat, damit diese Druck auf ihre Männer ausüben. In zahlreichen Zeitungs- und Rundfunkartikeln wendet sie sich an die Frauen der Republik. Protestschreiben von Gewerkschaften, Frauenverbänden sind das Ergebnis ihrer Aktion.

Dies führt dazu, das man sich dem Antrag von Elisabeth Selbert ein weiteres Mal widmet. Am 18. Januar 1949 wird der Antrag mit der Formulierung von Selbert ohne Gegenstimmen angenommen.

In ihrer Rundfunkansprache am darauf folgenden Tag überlässt sie den Triumph ihrer Partei. Sie selbst erachtet ihren Erfolg später als die Sternstunde ihres Lebens. Die Annahme des Artikels 3 GG hatte die Neuordnung zahlreicher Gesetze zur Folge.

"Meine verehrten Hörerinnen und Hörer, der gestrige Tag, an dem im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates in Bonn, dank der Initiative der Sozialdemokraten, die Gleichberechtigung der Frau in die Verfassung aufgenommen worden ist; dieser Tag war ein geschichtlicher Tag, eine Wende auf dem Wege der deutschen Frauen der Westzonen.

Lächeln sie nicht das ist nicht falsches Pathos einer Frauenrechtlerin. Dass mich so sprechen lässt. Ich bin Jurist und Unpathetisch. Und ich bin Frau und Mutter. Und zu
frauenrechtlerischen Dingen gar nicht geeignet. Ich spreche aus dem Empfinden einer Sozialistin heraus, die nach jahrzehntelangem Kampf um diese Gleichberechtigung nun das Ziel erreicht hat." - Elisabeth Selberts Rede zur Gleichberechtigung der Frau vom 18. Januar 1949




Die Folgen des eigenwilligen Handelns

Ihren Alleingang nimmt man ihr in der eigenen Partei übel. Bei der folgenden Bundestagswahl erhält sie einen hinteren Listenplatz, sodass sie nicht in das neu gewählte Parlament einziehen kann. Es fehlen ihr 200 Stimmen. Bereits im Vorfeld der Wahl hatte sie sich um eine Unterkunft in Bonn gekümmert.

Trotz häufiger Abwesenheit entwickelt sich ihre Kanzlei gut, sodass sie Anfang der 50er Jahre 14 Angestellte hat.

Im Juli 1951 bewirbt sie sich als Richterin für das Bundesverfassungsgericht. Ihre Wahl scheint nur eine Formalität zu sein. Doch sie wird nicht gewählt. Ein Parteifreund gesteht später, dass sie ihren “Leuten” zu profiliert sei.


Krisenjahre

In dem gleichen Jahr 1951, erfolgt der Kauf eines kleinen Hauses in Kassel Brasselsberg und der Umzug dorthin. 

Im März 1953 muss sich Elisabeth einer Gallenoperation unterziehen, in dessen Folge sie ca. 25 kg Gewicht verliert. Ebenfalls in das Jahr 1953 fällt die Sorge um eine eventuelle Trennung. Ihr Ehemann fühlt sich immer mehr von ihr vernachlässigt, und beginnt eine Liebesbeziehung mit einer Mitarbeiterin. Auch nach der Entdeckung dieser Außenbeziehung hält er an der Geliebten fest. Es gelingt den beiden, es nochmals miteinander zu versuchen.  Elisabeth leidet fortan unter Depressionen.

In diese Zeit fällt ein vierwöchiger Sanatorium Aufenthalt wegen Nervenerschöpfung, dessen genauer Zeitpunkt unbestimmt ist.

In das Jahr 1953 fallen auch finanzielle Schwierigkeiten, in welche sie gerät, sodass Freunde sie unterstützen müssen.

Im Jahre 1954 muss Elisabeth Selbert eine weitere Niederlage hinnehmen. Ihre Bewerbung zur Wahl als Richterin am Bundessozialgericht scheitert.

Bei der Landtagswahl 1954 wird sie von ihrer Partei auf einen hinteren Listenplatz platziert. Hatte sie bei den beiden Wahlen zuvor, Listenplatz 3 so wurde sie nunmehr auf Platz 27 verschoben. Gleichwohl gelingt es ihr, mit großer Anstrengung, den bürgerlichen Wahlkreis Kassel West (erstmals für die SPD) zu gewinnen und zieht so noch einmal in den Landtag ein. Gleichwohl zieht sie sich immer mehr aus der Politik zurück.

Ab dem Jahr 1955 arbeitet sie mit einem Kollegen in einer Sozietät zusammen. Im Sommer 1955 unterzieht sie sich einer weiteren Kur in Reichenhall.

1956 scheidet sie im 60ten Lebensjahr aus dem zentralen Parteivorstand der SPD aus.

Zu ihrem 60 Geburtstag wird ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen.




Rückzug und Verluste

Im September 1957 wird ihr Ehemann in den Ruhestand versetzt.

1958 zieht sie sich aus der Landespolitik zurück, indem sie nicht mehr kandidiert. Sie benennt berufliche Gründe und den angeschlagenen Gesundheitszustand ihres Mannes hierfür.

Um ca. 1958 löst sie die Sozietät mit dem Kollegen auf. Es folgt eine langjährige Zusammenarbeit mit einem anderen Anwalt.

Bis 1960 werden 5 Enkelinnen und ein Enkel geboren. Die Kanzlei wird an den Scheidemann Platz verlegt. Sie liest wieder gern, tritt in einige heimische Vereine ein.

1961 stirbt ihre Mutter im Alter von 91 Jahren in Melsungen.

Am 17.05.1965 stirbt ihr Ehemann Adam Selbert einen Tag nach seinem 70 Geburtstag.

Es folgen zahlreiche Reisen u.a. nach Tessin, oder zu den Bad-Mittendorfer Bergen im Salzburger Land.

1966 erleidet sie einen Autounfall in den Niederlanden mit anschließendem zweimonatigen Krankenhausaufenthalt.

Am 23. Mai 1969, zum 20jährigen Jubiläum des Grundgesetzes, erhält sie den Kasseler Wappen Ring.

Zunehmend unterstützt sie die Ausbildung ihrer Enkelkinder finanziell.

Bereits zuvor stellt sie jungen Frauen einen Referendariatplatz in ihrer Praxis zur Verfügung. Sie will damit fördern, dass Frauen in den Beruf der Justiz Einzug halten.

1972 stirbt ihre Schwester Käthe; 1983 die Schwester Minna.


Die letzten Lebensjahre

Vermehrt leidet sie an depressiven Verstimmungen.

Hinzu kommt die Erkrankung am grauen Star, der nach einer Operation nicht nachhaltig heilt. Dies führt dazu, dass sie ihre Arbeit in der Kanzlei etwa in ihrem 85. Lebensjahr aufgeben muss.

Sie stirbt am 9. Juni 1986 in ihrem Haus in Kassel.




Text und Fotos © 2018 / 2023 Hans Jürgen Groß 

Literatur: Hess. Landesregierung (Hrsg.), Ein Glücksfall für die Demokratie, 2. Auflage, Wiesbaden 2008

Video: Groß, Johanna, Portrait eines Menschen, Kassel 2009  



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