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Die zwölf Weizenkörner – eine alte Sage aus dem Melsunger Land, neu erzählt

Leben ist das, was passiert,
während du eifrig dabei bist,
andere Pläne zu machen.
(John Lennon, aus dem Song „Beautiful Boy“)

 

Am Fuße des heiligen Berges, der alle Gegensätze vereint, lebte einst ein armes, altes, hässliches Menschlein. „Ach wie schön wäre es, von ewiger Jugend begleitet zu sein?“, dachte es. „Ach wie schön, unermesslich reich und machtvoll zu sein?“, ein anderes Mal. „Ach, könnte doch das Licht der Sonne immer für mich scheinen“, träumte es in einer dunklen Winternacht. - Da geschah es, dass ihm an einem lauen Herbstabend, zu Mabon, die Herrin vom Berg erschien. „Ich habe deine Bitten gehört“, sagte diese. „Bedenke, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen.“ „Ach, bitte erhöre mein Flehen; ich will dir alles dafür geben, was du von mir verlangst“, entgegnete der Mensch.

„Nun gut“, sprach die Herrin vom Berg. „Wie wäre es, wenn ich dir auf Ewigkeit, meine goldenen Schätze anvertrauen würde? Das Strahlen, das von ihnen ausgeht, ist der Sonne gleich.“ „Oh ja“, antwortete freudig das Menschlein. „Was muss ich hierfür tun?“, fragte es erneut. „Recht wenig“, antwortete die Herrin. „Bewache meinen Schatz und du wirst auf Ewigkeit im Angesicht des Goldes leben. - Eines jedoch musst du wissen. Tief im Berg liegen die Schätze verborgen, sodass du nicht in der Gestalt eines Menschen über sie wachen kannst.“ - „Ich bin ja nur ein altes hässliches Menschlein, warum hieran festhalten“, dachte es sich und willigte voller Freude in den Handel ein. Ehe es sich versah, war aus dem Menschen eine kleine possierliche Maus geworden, welche schnell in den Gängen des Berges zu entfliehen suchte. „Halt!“, rief die Herrin vom Berg der kleinen Maus nach, für deren Schicksal sie Mitgefühl empfand. - „Wisse, dass du jederzeit dein altes Wesen zurückerlangen kannst, wenn du einen Menschen findest, dem es gelingt, zwölf goldene Weizenkörner von dir entgegenzunehmen, ohne dass ein Augenschlag vergangen ist.“

Einem Stundenglas gleich, strömte scheinbar die Zeit wie Sand durch die Enge des Augenblicks, den wir Leben nennen. Aus der Endlosigkeit kommend, hinein in den Raum, um sich im Endlosen zu verlieren. Und während am Hang des Heiligenbergs, nahe Gensungen, ein Kloster gegründet wurde und wieder verfiel, ein Schloss entstand, dessen Tage nur von kurzer Dauer waren, erlebte die Maus im Berg einen einzigen nie endend wollenden Tag. Ohne Unterlass strahlte das Gold und hüllte den Raum in ein golden, sonniges Licht. Der schiere Reichtum des Schatzes, über den die Maus nun wachte, war längst dem Überdruss gewichen. Die nie enden wollende Helligkeit wurde zur Qual.

So verging in der Welt, dort draußen, Stunde um Stunde, Jahr um Jahr, während für die Maus die Zeit stillzustehen schien. Sie erstarrte in der Ewigkeit der Sekunde und sehnte sich schließlich den Tod herbei. Da erinnerte sie sich an die Worte der Herrin vom Berg, die ihr einen Ausweg gewiesen hatte. Wie gern würde sie die alte Gestalt wieder annehmen und in Alter und Armut ihr Ende finden.

* * *



Es war ein lauer Sommertag, einer der Ersten, um Johanni. Die Welt schien weit zu sein, der Tag von unendlicher Dauer. Da lag ein Schäfer, dort, wo sich einst das Schloss erhob, im Gras und ließ seine Gedanken streifen. Weit weg von hier träumte er sich. „Wie wäre es, wenn …?“

So mit sich selbst beschäftigt sah er nicht, dass sich ihm eine kleine Maus näherte. Diese kam so nah heran, dass er sie mit der Hand hätte fassen können. Sie legte ein Weizenkorn aus purem Gold an seine Seite und blickte ihn dabei bittend an, als wolle sie sagen: „Nimm!“

Darauf verschwand sie, kam aber bald mit einem zweiten Körnchen zurück und legte dieses neben das Erste. Dies geschah ein weiteres Mal. Endlich hatte der Schäfer die kleine Maus entdeckt. Fragend schaute er ihrem geschäftigen Treiben zu, doch in seinen Gedanken drehte er sich noch immer im Tanz eines künftigen Festes.

Und wieder legte die Maus ein Weizenkorn neben die anderen und blickte dabei den Schäfer tief an. Dieser jedoch verstand nicht, was die Augen der Maus ihm sagen wollten. 

Als dann das zwölfte Weizenkörnchen am Platz neben dem Schäfer lag, erkannte dieser dessen Wert und wollte den kleinen Schatz ergreifen.

Als er seine Hand nach dem Golde ausstreckte, war alles, was er fassen konnte, dessen Schatten am Boden. Die zwölf goldenen Weizenkörner waren verschwunden. Von der kleinen Maus konnte er noch den Schwanz erkennen, als diese zwischen den Steinen verschwand. Lange wartete der Schäfer, an diesem Abend, auf die Rückkehr des kleinen Nagers. Doch diese kehrte nie zurück.

So wie dem Schäfer ergeht es uns allen. Unsere Gedanken sind den inneren Stimmen der vergangenen, oder künftigen Zeiten zugewandt, deren Ruf wir vernehmen. Den Augenblick selbst nehmen wir wie einen Schatten wahr. Dessen wahre Gestalt bleibt uns für immer verborgen, da diese bereits vergangen ist, bevor wir ihr wahrhaftig werden. Aus dem Umriss der Erinnerung beschreiben wir unsere Welt und planen unsere Zukunft. So ist Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart einem Traum gleich, Sand im Stundenglas des Lebens. 

Die Maus jedoch hütet noch heute den Schatz im Berg und wartet auf Erlösung. 


Text und Bilder © 2023 - Hans Jürgen Groß

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Anmerkungen:


Die Örtlichkeit:


Um 1217 wurde am Hang des Heiligenbergs, bei Gensungen, das Kloster Eppenberg errichtet. Um 1438 wurde dieser Chorfrauenstift aufgelöst und in die Kartause St. Johanni überführt.

Im Jahr 1527 erfolgte die Aufhebung des Klosters. Die Gebäude wurden nunmehr als Jagdschloss für Landgraf Philipp I., sowie als Landwirtschaftsgebäude genutzt.

Um 1610 ließ Landgraf Moritz der Gelehrte das Jagdschloss nach dem Vorbild italienischer Renaissanceschlösser umbauen. Im Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) wurde die Anlage zerstört und danach zu einem Vorwerk und Schafhof der Staatsdomäne Mittelhof umgebaut.

1957 brannten die landwirtschaftlich genutzten Gebäude, vom Blitz getroffen, bis auf die Grundmauern nieder.

Vom Kloster und dem Schlossgebäude sind heute nur noch die Ruine der Klosterkirche erhalten.


Die Zwölf

Die Zahl 12. begegnet uns in der Bibel, wie auch in Mythologie an zahlreicher Stelle. Zwölf Feen, im Märchen Dornröschen, 12 Jünger, die zwölf olympischen Hauptgötter, die 12 Ritter der Tafelrunde, um nur einige Bespiele zu nennen.

Doch viel mehr ist die 12., die Zahl der Zeit. 12 Monate hat das Jahr, zweimal 12 Stunden ergeben einen Tag, 12 Tierkreiszeichen bestimmen den Zodiak. Und wenn uns ein reiches Leben geschenkt ist, so umfasst dieses 12 Jahrsiebte. Die 12. bringt das Geistige in Zeit und Raum, der sich im Augenblick des Lebens offenbart.

12. ist die Summe der beiden heiligen Zahlen 7. und 5., sowie das Produkt der mystischen 3. und 4., die zwölf enthält die 1. wie auch die 2., ihre Quersumme ergibt die 3.


Das Weizenkorn

Das Weizenkorn ist Symbol dafür, dass aus Tod und Zerstörung neues Leben und sogar reiche Frucht entstehen kann.


Das Gold

Gold steht in vielen Kulturen für Glück, Weisheit und Beständigkeit. Das Element Gold wird der Sonne zugeordnet.


Mabon

Mabon beschreibt ein altes Fest, das wir heute als Erntedankfest begehen. Es wird zur Zeit der Herbsttagundnachtgleiche gefeiert.



Die Originalsage

Bei Gensungen, am Hang des Heiligenbergs, wo früher ein Schloss gestanden hatte, lag einmal ein Schäfer und hing seinen Gedanken nach. Da kam eine Maus aus den Steinen hervor und so nahe an ihn heran, dass er sie wohl mit der Hand hätte greifen können. Sie legte ein Weizenkorn von purem Gold vor ihn hin und blickte ihn klug und bittend an, so als wolle sie sagen: „Nimm!“

Darauf verschwand sie, kam aber bald mit einem zweiten Körnchen zurück und legte es neben das Erste. Dabei blickte sie wieder den Schäfer an, doch dieser verstand sich nicht darauf zu verstehen, was ihre Augen sagen wollten. Und so lief sie zurück unter die Steine und holte ein Drittes, dann ein Viertes, und noch mehr Körner. Und als sie dann zwölf gebracht und jedes Mal ihre kleinen dunklen Augen vergeblich gefleht hatten, da fing sie traurig an, die goldenen Weizenkörner eines nach dem anderen wieder unter die Erde zurückzutragen.

Endlich fing der Schäfer an zu begreifen, was das Tierchen gewollt hatte, aber da war es schon zu spät.

Hätte er die Weizenkörner genommen, dann hätte ihm die Maus immer noch mehr zugetragen und jedes wäre ein blankes Goldstück wert gewesen. Und der Mensch, der in Gestalt der Maus den Schatz bewachen muss, wäre erlöst gewesen.


Die Kartause vor dem Brand im Jahr 1957. Im Hintergrund der Heiligenberg.



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