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Der Vater bin ich

Die Erinnerung an diesen Tag ist nahezu vollständig erhalten. Es war ein warmer Vorsommertag im Juni des Jahres 2021. Johanna, meine älteste Tochter, hatte mich zu meinen Eltern gebeten, um dort für ihren Abschlussfilm an der Kunsthochschule Kassel einige Einstellungen zu drehen. Schon einige Monate begleitete sie die Familie mit Kamera und Mikrofon. Thema der aufgezeichneten Gespräche, mein im Krieg vermisster Großvater. Abwesend und doch immer präsent, mein ganzes Leben lang.

Das große, Schwarz-Weiß Foto eines Mannes in Uniform, welches in der Küche meiner Großmutter hing, begleitete mich durch die Kindheit. Es gelang mir nie, den Menschen auf dem Bild zu erkennen. Dieser wurde durch die Uniform verdeckt. Schaute man sich dieses Bild etwas genauer an, so konnte man erkennen, dass die nationalsozialistischen Hoheitszeichen auf dem Foto laienhaft entfernt worden waren.

Wer war dieser Johann Josef Benz, dessen erster Vorname in leicht gewandelter Form auf mich überging? Auch die blonden Haare, der leicht rötliche Bartansatz sollen Gemeinsamkeiten sein, die mich mit ihm verbinden. Auskünfte zu seiner Person wurden in meiner Kindheit eher ausweichend, schmerzerfüllt beantwortet, sodass ich schnell lernte, keine Fragen zu stellen. Die unvollendete Botschaft meiner Großmutter war häufig: „Wenn dein Opa jetzt da wäre, dann ….“ – Ja, was dann?  - Ginge es mir besser? Sorgte er gut für mich? Wäre er das Vorbild an gelebter Männlichkeit, an der es in meiner Kindheit, aus Sicht der Großmutter mangelte? So wurde der verschollene Großvater zu einer Art Geist, dessen ungeklärtes Schicksal meine Familie unbewusst bestimmte und lenkte.

Um 12.30 Uhr waren wir an diesem Tag verabredet. Johanna und Daniel (der Kameramann und Lebenspartner meiner Tochter) hatten sich bereits am Vormittag bei meinen Eltern angekündigt. Nach dem Mittagessen sollte ich hinzustoßen, um an dem gemeinsamen Gespräch vor der Kamera teilzunehmen. Wegen der Wärme, die an diesem 16. Juni herrschte, wurde ein kleiner Tisch im Freien, dort wo ich als Kind so häufig gespielt hatte, als Drehort gewählt. Meine Mutter, mein Vater, meine Tochter und ich; eng vereint an diesem kleinen Tisch. Daniel mit der Kamera hinter uns, sich frei bewegend.

Inhaltlich geplant war meine Eltern davon zu berichten, dass die filmische Spurensuche, Johanna und ihr Team mit einem Wohnmobil in das heutige Transnistrien führen sollte. Von dort hatte Josef einst, eine letzte Karte nach Hause geschickt. Diese Karte hatte sich im Nachlass meiner Großmutter befunden, und war von meinem Vater, ebenso schweigend, weiter behütet worden. Für mich hatte deren Existenz bereits wie eine Sensation gewirkt, stellte sie doch eine Information dar, die mir ein Leben lang nicht zugänglich war.

Was sich dann in den folgenden Minuten an unserem Tisch, durch die Kamera bezeugt, abspielte, möchte ich als das absolute Tohuwabohu bezeichnen. Meine Vorstellung von der gemeinsamen Aufgabenerfüllung, der wir uns hier stellten, geriet völlig aus dem Rahmen. Mutter, Vater, Kind saßen hier am gemeinsamen Tisch, und doch ein jeder in seiner eigenen Welt. Erwartet hatte ich, dass meine Mutter im Angesicht der bevorstehenden Reise ins Ungewisse mit Angst und Mahnungen reagiert. Doch es entwickelte sich alles ganz anders.


Mein Vater hatte einen kleinen alten Koffer auf den Tisch gestellt, den ich aus der Kindheit kannte. Meine Großmutter benutzte diesen, um persönliche Papiere darin zu verwahren. Seit Jahrzehnten hatte ich ihn nicht mehr gesehen und an seine Existenz konnte ich mich kaum noch erinnern. Umso mehr überraschte mich sein Erscheinen, mehr wie 28 Jahre nach dem Tod seiner Besitzerin. Noch mehr berührte mich der sich nun offenbarende Inhalt dieses kleinen, schwarzen Behältnisses. Er enthielt unzählige Briefe und Karten meines verschollenen Großvaters an seine kleine Familie. Ich war in meinen Gefühlen hin- und hergerissen. Einerseits war ich enttäuscht, dass man mir die Existenz dieser Briefe so lange vorenthalten hatte. Andererseits sah ich bereits die fertige Filmsequenz, wie wir als Familie authentisch und nicht gestellt diesen Schatz entdecken und erkunden werden vor meinem inneren Auge. Dies könnte ein wirklicher Schlüsselmoment für den Abschlussfilm meiner Tochter sein. Interessiert schaute ich mir die Briefe an, versuchte die Schrift zu entziffern, was leider kaum gelang. Dann begann ich die Briefe in eine chronologische Ordnung zu bringen, um so eventuelle Prozesse und Entwicklungen offenzulegen. - Doch was geschah um mich herum? Mein Vater sah sich weiter in der Aufgabe des Bewahrers, der diesen Schatz jahrzehntelang unter Verschluss gehalten hatte. Sein Bemühen galt, die Briefe nicht zu zerstören und vor allem zu verhindern, dass eventuell, kompromittierende Inhalte an die Öffentlichkeit gelangen. Es hatte den Anschein, als ob hier Inhalte seines eigenen Vaters offengelegt würden, dem er in Loyalität verbunden ist. Und was tat das wirkliche Kind, meine Mutter? Ich nahm sie als gar nicht wirklich anwesend wahr. Sie beobachtete das Geschehen, teilnahmslos. Dann lenkte sie die Kommunikation auf andere Dinge, welche nur am Rand etwas mit den Briefen zu tun hatte. Immer wieder versuchte ich das Gespräch auf das wesentliche, die gerade gefundenen Briefe zurückzuführen. Und immer wieder lenkte meine Mutter auf andere Themen ab. Wichtig war ihr allein, dass ihr Vater bei seiner Hochzeit vom katholischen zum evangelischen Glauben konferierte, während dieser in den Briefen sich nach ihrer Entwicklung und Befinden erkundigte.

Die Situation entfernte sich immer mehr von dem von mir Gewünschtem. Frustriert kehrte ich nach Hause zurück, bitterenttäuscht um die scheinbar vertane Chance für meine Tochter. Erst mit dem Abstand einiger Stunden und Tage wurde mir klar, dass die erlebte Situation ein reales Abbild der Struktur unserer Familie offenbarte, welche sehr stark durch die gebildeten Glaubenssätze und Muster geprägt ist, welche in der Vermissung ihren Ursprung haben.

Die Filmaufnahmen, welche an diesem Tag entstanden sind, habe ich bis zum heutigen Tag nicht gesehen. Johanna ist gegenwärtig damit beschäftigt, die Endfassung ihres Dokumentarfilmes zusammenzustellen.

Ich bin gespannt, wie das Beschriebene in dem Film Ausdruck finden wird. - Mein Gefühl, hier für einige Augenblicke einen Schlüssel der Erkenntnis in den Händen gehalten zu haben, wird darin bestärkt, dass sich diese Szene auch in einem Magazin wiederfindet, der Teile des Filmes vorwegnimmt und von meiner Tochter vor einem Monat veröffentlicht wurde.

Der Vater in dem Artikel bin ich …

© 2022 - Hans Jürgen Groß




Wie ich auszog, meinen Uropa zu finden


Zusammenfassung:
In dieser kleinen Anekdote berichte ich von dem Tag, an dem meine Tochter Johanna für ihren Abschlussfilm an der Kunsthochschule Kassel meine Eltern und mich interviewte. Das Thema war mein im Krieg vermisster Großvater Josef, von dem ich nur ein altes Foto kannte. Er war für mich immer eine rätselhafte und schmerzhafte Figur, die meine Familie prägte. Als wir uns an einem kleinen Tisch im Freien versammelten, um über ihn zu sprechen, holte mein Vater einen Koffer hervor, in dem er Briefe und Karten von Josef aufbewahrt hatte. Ich war schockiert und berührt zugleich, als ich diese Dokumente sah, die mir bisher vorenthalten worden waren.

Schlagworte:

Erinnerung, Familie, Großvater, Krieg, Film, vermisster Großvater,
Familiengeheimnisse, Filmproduktion, Dokumentarfilm, Familiendynamik

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