auf dem Karussell - oder: von dem Augenblick, der Veränderung und dem Fasten
„Papa, Papa*, schau mal ein Karussell!“
Meine Gedanken sind weit, weit weg geglitten. Weit weg von diesem Ort, weit weg, von dem Kind an meiner Hand, von den Dingen, die mich umgeben. Bilder aus alten Zeiten, tief verinnerlicht, beschäftigen mich, versperren die Aufmerksamkeit für die Gegenwart.
Ja, tatsächlich, da steht mitten auf dem Platz ein altes Kinderkarussell. Schön ist, es anzusehen. Zwei Pferde ziehen jeweils eine Kutsche. Ein Gespann folgt dem Nächsten.
"Papa, Papa*, bitte noch eine Runde", ruft mir das Kind von einem der sich im Kreis drehenden Pferde zu. – Die wievielte Runde mag es wohl schon sein? Ist es nicht langweilig, sich immer im Kreis zu drehen?
„Papa, Papa* bist du noch da?“, fragt das Kind von seinem Pferd aus und hält sich dabei die Augen zu. „Ja, ich stehe hier“, antworte ich. – Meine Aufmerksamkeit wird nun auf das Tun des sich zum wiederholtem Male auf dem Karussell drehenden Kindes gelenkt. – Eine Runde mit geschlossenen Augen, eine weitere Runde mit zugehaltenen Ohren. Die nächste Runde mit einer Hand vor einem Auge, dann die Nase zugehalten.
Ich verstehe. - Wir alle fahren täglich auf unserem Lebenskarussell. Jeder Tag eine neue Runde. Am Anfang ist dies spannend und interessant. Doch schon schnell wird die sich um uns drehende Welt bekannt. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit den kleinen Veränderungen zu, lernen die Welt da draußen kennen. Zuschauer, die ihren Platz verlassen, neue Personen kommen hinzu, bleiben oder gehen. Doch schon bald ist dieses ständige Kommen und Gehen Normalität, wird Routine. Unsere Gedanken gleiten in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Wir werden unachtsam, verlieren den Kontakt zu dem, was gerade ist, verlieren den Kontakt zu uns selbst.
Jeden Tag die gleichen Abläufe, Erwachen, Badbesuch, Frühstück, alltägliche Pflichten. Am Abend fernsehen, ins Bett gehen, lesen, schlafen. „Und täglich grüßt das Murmeltier“, wie der Titel eines Filmes heißt.
Ich kann viel von dem Kind lernen. Das spielerische Durchbrechen von Routinen macht die Karussellfahrt interessant. Diese Runde verzichte ich auf das Sehen. Wie verändert sich die Welt? Die nächste Runde, ganz ohne Gehör. – Wie erfahre ich nun die Welt? Allen gemein ist, das Leben bleibt spannend, der Kontakt zu dem, was gerade ist, geht nicht verloren.
Es liegt allein in unserer Entscheidung, dafür zu sorgen, dass unser Leben reizvoll bleibt.
Eine Möglichkeit, die mir das Kind aufgezeigt hat, kann in dem spielerischen, vorübergehenden Verzicht von etwas Alltäglichem bestehen. Diese partielle, bewusst herbeigeführte Enthaltsamkeit kennen wir unter dem Begriff „fasten“.
Fasten als Gestaltungselement des Lebens ist historisch in zahlreichen Kulturen belegt und kommt in vielfältigen Formen vor. Im Ergebnis schärft das Fasten unsere Wahrnehmung, steigert unsere Willenskraft und macht das Leben interessanter.
Wichtig ist der spielerische Umgang mit der frei gewählten Enthaltsamkeit. Fasten ist keine Strafe oder Selbstkasteiung. Ich gebe vorübergehend etwas auf, das ich entbehren kann, und bin offen dafür, was mir das Leben als Ausgleich hierfür schenkt. Auch das vorübergehende Ausbrechen aus dem Alltag, aus dem Beruf, in Form eines Urlaubes kann im weitesten Sinn, eine Form des Fastens sein.
Du siehst, die Möglichkeiten zu fasten, sind scheinbar unbegrenzt. – Hast du auch Lust darauf bekommen, es mal selbst auszuprobieren?
Viel Spaß und Freude beim Neuentdecken deiner Welt.
Was verändert sich? – „Ah ja, so sieht die Welt nun gerade aus“.
Foto: Hans Jürgen Groß - 1988 |
* an dieser Stelle könnte auch ein: Mama, Mama stehen
Zusammenfassung:
© 2021 und 2023 Hans Jürgen Groß
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