Der Junge spürte die Unsicherheit, die auf ihrem Leben lastete, und begann früh, stärker zu sein, als er war. Er tröstete die Mutter, wo er selbst Geborgenheit gebraucht hätte. So nahm er ihre Ängste in sich auf – und verlor dabei Stück für Stück den Zugang zu sich selbst.
Mit den Jahren wurde die Werkstatt sein sicherster Ort. Zahnräder, die ineinandergriffen, Federn, die gehorchten, Pendel, die verlässlich schwangen – hier war Ordnung, hier kannte er sich aus. So kam es, dass er in seinem Fach glänzte. Doch wenn draußen der Wind aufzog, wenn die Bäume sich bogen und die Fenster bebten, erlosch alle Stärke. Dann übernahmen die Schatten in ihm das Regiment: Bilder von Katastrophen, vom Einsturz der Mauern, vom Verlust aller Ordnung. Er hörte, wie das Glas der Scheiben zitterte, als wären es Stimmen, die ihn warnen wollten. Alles, was er aufgebaut hatte, schien in Gefahr.
Je älter er wurde, desto stärker schloss er sich ein. Türen wurden doppelt verriegelt, Ritzen versiegelt, sogar die Werkbank schraubte er fest in den Boden. Doch je mehr er sich absicherte, desto öfter kehrte der Wind scheinbar zurück – und jedes Mal war er heftiger.
Eines Tages arbeitete er an einer besonderen Uhr. Sie war wie ein kleines Universum: sieben Federn trugen sie, und ein Himmelszeiger spannte sich über das Zifferblatt – ein Zeiger, der den Lauf von Sonne und Mond anzeigte, als wolle er den Menschen ein Stück Himmel fassbar machen. Sie schien geschaffen, um der Welt Ordnung zu verleihen, um das scheinbare Chaos im Maß der Stunden zu bannen.
Da brach der Wind herein, stärker als je zuvor. Er fegte durch die Werkstatt, riss die Uhr vom Tisch, zerschlug sie in unzählige Teile.
Der Uhrmacher sackte zusammen. Etwas in ihm löste sich, das lange gehalten hatte. Die Jahre des Tragens, des Starkseins, des stummen Aushaltens brachen unter ihm wie dünnes Eis. Er weinte, weinte nicht nur um die Uhr – er weinte um sich selbst. Zum ersten Mal erkannte er: Er konnte nicht länger nur für andere sorgen. Er konnte nicht alles in Ordnung halten – nicht den Himmel, nicht die Zeit, nicht die zerbrochenen Herzen.
Es war, als fiele er in eine große Leere. Doch in dieser Leere öffnete sich ein Raum. Er spürte, wie der Wind sanft seine Haut berührte – tröstend, scheinbar haltend. Dann geschah etwas Unerwartetes: Der Sturm sprach. Nicht mit Worten, die das Ohr hört, sondern mit einer Stimme, die in seiner Brust widerhallte: „Ich bin nicht dein Feind. Ich reiße nieder, was dich fesselt. Ich breche die Uhren, die dich in fremder Zeit gefangen halten. Du musst nicht länger stark sein für andere. Sprich! Sprich, auch wenn es schmerzt. Sprich ohne Schuld, ohne Scham. Deine Schatten gehören zu dir – verleugne sie nicht.“
Er lag lange so, zwischen Scherben und dem Heulen des Windes, bis er begriff: Der Sturm hatte nicht genommen – er hatte geöffnet. Zum ersten Mal wagte er, auszusprechen, was in ihm war: die Angst, die Schwäche, das Zittern. Und er merkte, dass er nicht zerfiel, wenn er dies tat – im Gegenteil: Etwas Neues wuchs in ihm, leise, aber echt.
Von da an begann er, anders zu leben. Nicht plötzlich, nicht vollkommen. Schritt für Schritt lernte er, auf sich zu hören – erst im Flüstern, dann klarer. Er sprach von seiner Angst, von seinen Zweifeln, und manchmal, wenn die Worte schwer waren, zeigte er sie einfach: indem er eine Uhr zurückgab, unrepariert, oder einen Auftrag ablehnte. Jedes Mal zitterten seine Hände dabei, als fürchteten sie noch die alte Strafe. Doch mit der Zeit bemerkte er: Die Menschen kamen weiterhin. Nicht trotz, sondern gerade weil er nicht mehr makellos sein musste. Sie vertrauten ihm nun nicht nur ihre Uhren an, sondern auch ihre Fragen, ihre eigenen gebrochenen Räderwerkseelen.
Und er gab keine fertigen Antworten, ließ die Verantwortung bei ihnen. Er erzählte von sich und dem Wind. Von dem, was man nicht beherrschen muss, um getragen zu sein.
So blieb er ein Mensch auf dem Weg – einer, der wusste, wie es sich anfühlt, zu zerbrechen. Und gerade darin lag seine Nähe zu den anderen. Und manchmal, wenn der Sturm an die Fenster klopft, lauscht er – und hört darin nur noch den Herzschlag der Zeit.
© 2025 - Hans Jürgen Groß

Nachwort zu „Die Geschichte vom Uhrmacher und dem Sturm“ von Microsoft Copilot
Hans Jürgen Groß erzählt in dieser berührenden Parabel von einem Uhrmacher, der über Jahre hinweg versucht, die Welt durch Ordnung und Präzision zusammenzuhalten – und dabei sich selbst verliert. Der Sturm, der seine Werkstatt verwüstet, wird zum Wendepunkt: Er zerstört nicht nur eine Uhr, sondern auch das alte Selbstbild des Mannes als unerschütterlicher Helfer.
Die Geschichte zeigt, wie frühkindliche Prägungen – insbesondere die Ängste und Traumata der Eltern – das Leben eines Menschen formen können. Der Uhrmacher übernimmt die Rolle des Starken, des Trösters, und verliert dabei den Zugang zu seinen eigenen Bedürfnissen. Erst durch den Zusammenbruch erkennt er: Er muss nicht alles reparieren, nicht jede Ordnung bewahren, nicht immer stark sein.
Der Sturm spricht zu ihm – als Symbol für verdrängte Gefühle – und eröffnet einen Weg zur Selbstbefreiung. Der Uhrmacher lernt, seine Schwächen zu zeigen, Grenzen zu setzen und sich selbst Raum zu geben. Gerade darin liegt seine neue Stärke: Die Menschen vertrauen ihm nicht trotz, sondern wegen seiner Verletzlichkeit.
„Die Geschichte vom Uhrmacher und dem Sturm“ ist eine Einladung, die eigenen Schatten anzunehmen und die heilende Kraft des Aussprechens zu entdecken. Denn manchmal ist es der Moment des Zerbrechens, der uns wirklich zu uns selbst führt.
Zusammenfassung
In „Die Geschichte vom Uhrmacher und dem Sturm“ erzählt Hans Jürgen Groß die bewegende Lebensgeschichte eines Mannes, der sich in der Rolle des Helfers verliert. Als Uhrmacher bringt er Ordnung in die Welt der anderen – doch in seinem Inneren herrscht Chaos. Geprägt von der Angst seiner Mutter und dem Druck, stark sein zu müssen, flüchtet er sich in die Präzision seiner Werkstatt. Erst ein zerstörerischer Sturm bringt ihn dazu, sich seinen verdrängten Gefühlen zu stellen. In der Konfrontation mit dem Zusammenbruch entdeckt er eine neue Wahrheit: Verletzlichkeit ist keine Schwäche, sondern der Beginn echter Nähe. Eine poetische Erzählung über Trauma, Heilung und den Mut, sich selbst zu begegnen.
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