Wie die Melsunger zu dem Namen Bartenwetzer kamen
„Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott."
(Johannes 1:1)
In jenen Tagen, da das Wünschen noch half, wie die Brüder Grimm zu berichten wussten, lag an einem Knotenpunkt mächtiger Handelswege eine blühende Stadt namens Melsungen. Händler aus fernen Ländern zogen mit ihren Waren über die mittelalterlichen Pfade und bescherten der Stadt Wohlstand und Leben.
Doch wie der Mond seine Phasen wechselt, so wendet auch das Schicksal oft sein Antlitz, und die Stadt musste schmerzvolle Prüfungen erdulden. Ein verheerender Brand hatte das stolze Rathaus und viele der kunstvollen Fachwerkhäuser vernichtet. Auch die alte steinerne Brücke über die rauschende Fulda, die das Herz der Stadt mit den umliegenden Wäldern verband, war von Hochwasser und treibenden Eismassen zerstört worden. Ein einfacher Fährdienst ersetzte die Brücke, doch dieser konnte den Handel und das tägliche Leben der Bürger nur mühsam aufrechterhalten.
Die Melsunger jedoch waren zähe und unbeugsame Menschen. Sie bauten ihre Stadt wieder auf, und unter der gütigen Herrschaft des jungen Landgrafen, der ihnen wohlgesonnen war, errichteten sie eine neue, prächtige Brücke aus Sandstein. Dieses Meisterwerk, das sich in den Fluten, der Fulda spiegelte, war verziert mit dem geheimnisvollen Anagramm (WGNB DBSU SDMK), welches den Segen des Landgrafen in Rätseln verbarg. Dieser Herrscher, so flüsterte man sich ehrfürchtig zu, beherrsche nicht nur die Gesetze des Reiches, sondern auch die verborgenen Kräfte der Alchemie und sei ein Mitglied der geheimen Bruderschaft der Rosenkreuzer.
Tag für Tag überschritten nun die Waldarbeiter die Brücke, ihre Äxte auf der Schulter, um in den dunklen Wäldern jenseits der Fulda zu arbeiten. Ihre Werkzeuge – die Barten – schärften sie an den weichen Sandsteinen der Brücke, und bald prägten sich tiefe Einkerbungen in das steinerne Kunstwerk. Die wohlhabenden Bürger der Stadt, die den Bau der Brücke mit ihren Mitteln und ihrer Kraft unterstützt hatten, sahen dies mit wachsender Besorgnis. „Schaut nur“, flüsterten sie sich murrend zu, „kaum ist die Brücke vollendet, und schon wird sie von den unachtsamen Bartenwetzern beschädigt!“
Der Unmut wuchs, und die Klagen erreichten bald die Ohren des weisen Landgrafen. Er ließ die Bürger zu sich kommen und hörte geduldig ihren Sorgen zu. Lange verharrte er schweigend, dann aber erhob er seine Hand und sprach: „Ich verstehe eure Furcht um das Werk, das ihr mit so viel Mühe erschaffen habt. Doch vergesst nicht, die Waldarbeiter, die ihr Bartenwetzer nennt, sind das Herz und das Rückgrat unserer Stadt. Ohne ihr Tun blieben unsere Herde kalt und unsere Häuser unvollendet. Lasst sie gewähren! Sollten meine Worte aber in der Leere verhallen, dann möge der Name dieser Stadt auf ewig mit diesen armen Menschen verbunden sein.“
Entsetzt über die Strenge der Offenbarung wagten die Bürger nicht, sich dem Befehl des Landgrafen zu widersetzen. Die Zeit verging, und die Worte des Landgrafen gerieten im Sturm der Tage in Vergessenheit. Ein nicht enden wollender Krieg zog über das Land und bereitete den Menschen Kummer und Leid. Doch die Bartenwetzer, wie man sie fortan nannte, schärften weiterhin ihre Äxte an den Steinen der Brücke.
Eines Tages, die Prophezeiung des Landgrafen war längst aus den Köpfen der Menschen gewichen, wurde die steinerne Brücke erneuert. Und wieder erhob sich der Unmut der Bürger über die Waldarbeiter, die mit ihren Barten Spuren an den Steinen hinterließen. Da kamen Fremde in die Stadt und sahen die Bartenwetzer auf der Brücke stehen. Mit spöttischem Lachen riefen sie: „Seht nur die Melsunger! Statt zu arbeiten, wetzen sie ihre Äxte und schwatzen!“ Schnell verbreiteten sich diese Worte im Land, und bald kannte man die Melsunger überall nur noch als die faulen, redseligen Bartenwetzer. Und so erfüllten sich die Worte des weisen Landgrafen und lasteten fortan wie ein Fluch auf den Bürgern der Stadt.
Doch wie die Jahreszeiten sich wandeln, so wandelte sich auch der Spott in sein Gegenteil. Die Melsunger erkannten den Wert der Waldarbeiter, und der Name Bartenwetzer wurde zum stolzen Ehrentitel, den nur ein gebürtiger Melsunger tragen durfte. Die steinerne Brücke, einst Quelle des Unmuts, trägt heute den Namen der Bartenwetzer, und sogar eine Bahnstation ehrt diese in ihrem Namen.
So lehrt uns die Geschichte der Melsunger Bartenwetzer, dass Worte eine verborgene Macht besitzen. Sie können verletzen, aber auch heilen. Sie trennen und vereinen. Was einst als Spott und Hohn begann, wurde zum Segen der Stadt. Diese Mär erinnert uns an Toleranz, Respekt und an die Weisheit, dass wahre Größe in der Achtung der Arbeit und der Geschichten all jener liegt, die unsere Welt Tag für Tag ein wenig heller machen.
Text und Fotos © 2024 - Hans Jürgen Groß
Die vorliegende Erzählung ist fiktiv und frei erfunden.
Obwohl es keine konkreten Beweise dafür gibt, dass die Bürger von Melsungen das Schärfen der Äxte an der neuen Brücke durch die Holzfäller aktiv missbilligten, deutet die in den alten Quellen beschriebene soziale Dynamik darauf hin, dass es möglicherweise unterschiedliche Ansichten zu dieser Praxis gab.
Der Rathausbrand sowie die Zerstörung der alten Brücke sind Ereignisse mit einem realen historischen Hintergrund, ebenso die Handelsstraßen, die durch die Stadt führten und an die noch heute die Straßennamen Sälzerweg, Die Langen Hessen und Nürnberger Straße erinnern.
- Die Inschrift zur Einweihung der neuen steinernen Brücke befindet sich an der Abschlussmauer rechts in Richtung Stadt:
Der Text lautet: Anno 1595 den 2. Julius ist der erste Stein an dieser Brücke in Gottes Namen auf Befehl unseres gnädigen Fürsten und Herren Moritz LzH (Landgraf zu Hessen) gelegt und ist anno 1596 den 16. Oktober, verfertigt.
Der Segensspruch darunter ist das Anagramm WGNB DBSU SDMK. Seine Deutung: Wo Gott nicht baut, da bauen sie umsonst. Segne diese meine Kunst.
- Eine andere Version der Geschichte aus dem Jahr 1935 die beschreibt, wie die Melsunger zu dem Namen Bartenwetzer gelangten, ist unter dem Titel "Die Bartenwetzer" erschienen und findet sich unter dem folgenden Link: https://tinyurl.com/2yxs4svo
- Moritz der Gelehrte: Ein vielschichtiger Landesfürst
Moritz von Hessen-Kassel, der Gelehrte genannt, war eine faszinierende Figur der Geschichte. Als Landgraf von Hessen-Kassel von 1592 bis 1627 prägte er nicht nur die politische Landschaft seiner Zeit, sondern war auch ein leidenschaftlicher Förderer von Kunst, Wissenschaft und Kultur.
Ein vielseitiges Talent: Von der Kunst zur Alchemie
Der Zeichner: Moritz war ein talentierter Zeichner. Seine Arbeiten zeugen von einem geschulten Auge und einer Liebe zum Detail. Besonders bemerkenswert ist die Vielzahl von Zeichnungen, die er von der Stadt Melsungen anfertigte. Diese geben uns heute noch einen lebendigen Eindruck von der Stadt in der frühen Neuzeit.
Der Alchemist: Wie viele seiner Zeitgenossen war Moritz auch von der Alchemie fasziniert. Die Suche nach dem Stein der Weisen und dem Elixir Vitae, der Quelle ewigen Lebens, war ein weitverbreitetes Interesse unter Gelehrten und Fürsten. Moritz richtete in Kassel ein alchemistisches Labor ein und führte selbst Experimente durch.
Die Rosenkreuzer: Die Verbindung zwischen Moritz und den Rosenkreuzern ist ein spannendes Kapitel. Die Rosenkreuzer waren eine geheime Gesellschaft, die sich für mystische und alchemistische Studien einsetzte. Obwohl es keine direkten Beweise für eine Mitgliedschaft Moritz' gibt, deuten viele Indizien darauf hin, dass er mit den Ideen der Rosenkreuzer sympathisierte.
Der Herausgeber der "Chymischen Hochzeit"
Eines der bedeutendsten Werke, das mit Moritz in Verbindung gebracht wird, ist die "Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz". Dieses alchemistische Traktat wurde im 17. Jahrhundert veröffentlicht und gilt als eines der wichtigsten Werke der Rosenkreuzerliteratur. Moritz wird oft als möglicher Herausgeber oder Förderer dieses Werkes genannt.
Siehe auch: https://tinyurl.com/22mtx6g9
Moritz und Melsungen
Die vielen Zeichnungen, die Moritz von Melsungen anfertigte, unterstreichen seine besondere Beziehung zu dieser Stadt. Melsungen lag im Herzen seines Herrschaftsgebiets und war ein wichtiger Ort für ihn. Durch seine Zeichnungen hat er uns ein wertvolles Dokument über das Stadtbild und die Lebensverhältnisse in Melsungen hinterlassen.
Moritz wählte nach seiner Abdankung das Schloss Melsungen zu seinem Alterssitz. Neben der Fertigung weiteren Zeichnungen der Stadt beschäftigte er sich hier mit der Suche nach dem Stein der Weisen. Siehe auch: https://tinyurl.com/2blvclkx
Zeichnung Moritz - Melsunger Brücke, Entwurf für eine Befestigung |
Analyse und Interpretation der Erzählung "Die Geschichte der Melsunger Bartenwetzer" durch Google Gemini
Die vorliegende Erzählung ist ein gelungenes Beispiel für eine Geschichte, die historische Fakten mit fantastischen Elementen verwebt. Sie spielt mit der Macht der Sprache, der Bedeutung von Symbolen und der Wandelbarkeit von Bedeutungen.
Historischer Kontext und literarische Elemente
Die Geschichte der Melsunger Bartenwetzer ist mehr als nur eine lokale Sage. Sie ist eine Parabel über die menschliche Natur und die Macht der Sprache. Sie zeigt, wie leicht Vorurteile entstehen und wie schwer sie wieder zu überwinden sind. Gleichzeitig ist sie eine Ermutigung, über den ersten Eindruck hinauszugehen und die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
Das Anagramm auf der Brücke kann als eine Art Orakel verstanden werden, das die zukünftige Entwicklung der Stadt vorhersagt. Es deutet darauf hin, dass der Segen Gottes nur dann wirksam wird, wenn die Menschen zusammenarbeiten und ihre Talente zum Wohle der Gemeinschaft einsetzen.
Zusammenfassend ist die Erzählung eine fesselnde Mischung aus Geschichte, Mythos und Philosophie. Sie lädt den Leser ein, über die Macht der Worte, die Bedeutung von Symbolen und die Wandelbarkeit von Bedeutungen nachzudenken.
Historischer Kontext und literarische Elemente
- Moritz der Gelehrte: Die Bezugnahme auf einen historischen Landgrafen, der für seine Gelehrsamkeit bekannt war, verleiht der Erzählung eine gewisse Authentizität und verankert sie in einem realen historischen Kontext.
- Anagramm: Das Anagramm "WGNB DBSU SDMK" und seine Deutung als "Wo Gott nicht baut, da bauen sie umsonst" ist ein raffiniertes literarisches Mittel. Es verbindet die profane Tätigkeit des Bartenwetzens mit einem höheren Sinn und unterstreicht die Bedeutung göttlichen Segens für jedes menschliche Tun.
- Rosenkreuzer: Die Verbindung des Landgrafen mit den Rosenkreuzern, einer geheimnisvollen Gesellschaft, die sich mit Alchemie und Esoterik beschäftigte, fügt der Erzählung eine mystische Dimension hinzu.
- Biblischer Bezug: Der Beginn der Erzählung mit einem Zitat aus dem Johannesevangelium stellt einen Bezug zur Schöpfung her und unterstreicht die Bedeutung des Wortes als Ursprung allen Seins.
- Die Macht der Worte: Die Erzählung zeigt eindrücklich, wie Worte die Wahrnehmung der Menschen prägen und ihr Schicksal beeinflussen können. Ein ursprünglich als Spott gemeinter Name wird zum stolzen Symbol einer Stadt.
- Wandel der Bedeutung: Die Bedeutung von Symbolen und Begriffen kann sich im Laufe der Zeit wandeln. Was einst als negativ empfunden wurde, kann später als positiv bewertet werden.
- Gemeinschaft und Zusammenhalt: Die Geschichte betont die Bedeutung von Gemeinschaft und Zusammenhalt. Die Waldarbeiter, die ursprünglich als faul und unproduktiv angesehen wurden, erweisen sich als das Rückgrat der Stadt.
- Toleranz und Respekt: Die Erzählung fordert zu Toleranz und Respekt gegenüber allen Menschen auf, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrer Tätigkeit.
Die Geschichte der Melsunger Bartenwetzer ist mehr als nur eine lokale Sage. Sie ist eine Parabel über die menschliche Natur und die Macht der Sprache. Sie zeigt, wie leicht Vorurteile entstehen und wie schwer sie wieder zu überwinden sind. Gleichzeitig ist sie eine Ermutigung, über den ersten Eindruck hinauszugehen und die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
Das Anagramm auf der Brücke kann als eine Art Orakel verstanden werden, das die zukünftige Entwicklung der Stadt vorhersagt. Es deutet darauf hin, dass der Segen Gottes nur dann wirksam wird, wenn die Menschen zusammenarbeiten und ihre Talente zum Wohle der Gemeinschaft einsetzen.
Zusammenfassend ist die Erzählung eine fesselnde Mischung aus Geschichte, Mythos und Philosophie. Sie lädt den Leser ein, über die Macht der Worte, die Bedeutung von Symbolen und die Wandelbarkeit von Bedeutungen nachzudenken.
In der blühenden Stadt Melsungen, die an einem Knotenpunkt mächtiger Handelswege liegt, zerstören ein verheerender Brand und Hochwasser das stolze Rathaus und die alte steinerne Brücke. Unter der Herrschaft von Landgraf Moritz dem Gelehrten errichten die Melsunger eine neue prächtige Brücke aus Sandstein, die mit einem geheimnisvollen Anagramm verziert ist. Die Waldarbeiter, die ihre Äxte an der Brücke schärfen, werden zunächst als Bedrohung gesehen, doch der Landgraf erkennt ihren Wert und verteidigt sie. Der Spott über die “Bartenwetzer” verwandelt sich schließlich in einen Ehrentitel, was die transformative Kraft von Sprache und Wahrnehmung verdeutlicht. Die Geschichte lehrt Toleranz, Respekt und die Anerkennung der Arbeit anderer.
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