Im Jetzt: Ein Sommer voller Prüfungen und Erkenntnisse
„Es ist Zeit“, resümiert Rilke in seinem Gedicht „Herbsttag“. „Der Sommer war sehr groß.“ Zeit – als Erinnerung und als Erwartung. Leben im Jetzt. Das Jetzt ist der Ort, an dem wir stehen, unser Platz. Doch viele von uns hängen gedanklich in der Vergangenheit fest, während andere, wie ich, in die Zukunft blicken, wartend auf Besserung und Veränderung. Morgen, morgen – ja, dann wird alles besser, schöner, anders sein.
Doch in Wahrheit stehen wir hier, in der Gegenwart, im Augenblick. Genau das erlebe ich gerade. So schreibe ich heute über diesen Sommer: Ich bin kein Sommertyp, mag lieber Frühling und Herbst. Aber dieser Sommer war wirklich „sehr groß“. Den Frühling hatte ich auf der Insel Juist verabschiedet. Den Sommer wollte ich zu Hause verbringen. Und dann begann er – laut und herausfordernd, wie mit Pauken und Trompeten. Es war, als ob er mich auf die Probe stellen wollte: Bin ich bereit für die kommenden Zeiten?
Es war der Johannistag, der 27. Geburtstag meiner jüngsten Tochter, als ich erfuhr, dass unser EDV-Partner, der die Hard- und Software unseres Büros betreute, freiwillig aus dem Leben geschieden war. Ein Schock. Vor meinem inneren Auge sah ich sein Bild, hörte seine Stimme, erinnerte mich an seine Bewegungen. Warum?, fragte ich mich, und auch die Mitarbeitenden unserer Praxis stellten sich diese Frage. Doch statt im Schock zu verharren, trieb mich etwas nach vorn, in die Zukunft. Wie sollte es nun weitergehen? Die EDV ist das Herz unserer Arbeit – ohne sie ist unsere Handlungsfähigkeit verloren. Ein Kollege des Verstorbenen teilte mir mit, dass er diese Aufgabe allein nicht weiterführen könne. Ich nahm das Telefon in die Hand, rief Bekannte und Kollegen an, die vielleicht weiterhelfen konnten. Schließlich fand ich eine Firma, die kurzfristig einspringen konnte, und bereits am nächsten Tag hatten wir einen gemeinsamen Kennenlerntermin.
Es fühlte sich wie ein kleines Wunder an. Doch in den folgenden drei Wochen wurden wir auf eine harte Probe gestellt. Es stellte sich heraus, dass wir nicht alle Passwörter für den Server besaßen. - Warum nicht? Wir waren die Auftraggeber und gingen davon aus, über alle Zugänge zu verfügen. - Der neue Partner versuchte alles, um den Server zu entsperren. Doch am Ende der Woche, als der Juni in den Juli überging, wurden die Mitarbeitenden plötzlich ausgesperrt – ihre Passwörter waren abgelaufen. So gingen wir ins Wochenende. In mir schrie es. Ich suchte verzweifelt nach einer Lösung, um zumindest auf Einzelplätzen weiterarbeiten zu können, und regte zusätzliche Datensicherungen an. Zum Glück konnte das neue EDV-Team das Problem am folgenden Montag lösen.
Die Arbeit war wieder möglich, zumindest teilweise. Der vollständige Zugriff blieb jedoch gesperrt, und die Uhr tickte: Ein Update unseres Hauptprogramms stand bevor, doch ohne die nötigen Rechte war dies unmöglich. Wenn es nicht innerhalb von zehn Tagen durchgeführt würde, drohte das Programm aus Sicherheitsgründen deaktiviert zu werden. Die neu beauftragte Firma arbeitete fieberhaft, aber vorerst ohne Erfolg. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich sicher gefühlt, Lösungen im Kopf gehabt. Doch nun wurde ich von einem Gefühl der Ohnmacht erfasst: Aushalten, vertrauen, akzeptieren, dass ich nichts tun kann. Eine immense Herausforderung, die sich auch körperlich zeigte – Magenschmerzen, Schwindel begleiteten mich.
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Kurz nach dem Urlaub, kurz vor dem Johannitag, hatte ich Heizöl bestellt. Früh am Morgen fuhr der Öllaster vor und lud seine Lieferung ab. Bald darauf ertönte das Leckwarngerät im Haus. Grundwasser war zwischen die Betonwand und die Kunststoffhülle des Tanks eingedrungen, sodass das Leckgerät defekt wurde. Der Notdienst pumpte das Wasser ab und ersetzte das Gerät. Inmitten dieses Trubels murmelte ich mein Mantra: „Ich bin.“
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Letztes Juniwochenende. Um Abstand vom Bürochaos zu gewinnen, widmete ich mich praktischen Dingen. Die Garage musste dringend gereinigt werden. Doch beim Kehren bemerkte ich eine Beule an der Stoßstange meines Autos. Jemand war offenbar dagegen gefahren. Noch mehr Probleme! Aber ich entschied, mich nicht sofort darum zu kümmern.
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Im Büro suchten wir weiter nach einer Lösung. Tag um Tag verging, ohne dass wir dem Ziel näherkamen. Im schlimmsten Fall müsste der Server neu aufgesetzt werden, was jedoch Zeit beanspruchen würde, in der wir nicht arbeiten könnten. Unsere Dienstleistungen gerieten in Gefahr. Ende Juli lief die Frist für die Steuererklärungen 2022 ab, und wir sicherten, was möglich war. Unsere Existenz schien bedroht. In meinem Inneren sah ich ein Bild: ein Haus, welches einem Heißluftballon gleich, frei schwebend, langsam am Horizont verschwindet.
Dann, endlich – wenige Tage vor der drohenden Sperrung des Programms – gelang es, die Kontrolle über den Server wiederzuerlangen. Das Update wurde durchgeführt, neue Passwörter erstellt. Doch Erleichterung und Entspannung stellten sich bei mir nicht ein. Ich bewegte mich weiterhin durch den Tag, als ginge ich auf dünnem Eis.
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Erholung – das war mein Ziel für die nächsten Tage. Doch zuerst mussten die Rückstände abgearbeitet werden. Mitte August fuhr ich dann für ein paar Tage nach Weimar. Doch kaum war ich dort am Bahnhof angekommen, meldete sich mein Telefon: Meine älteste Tochter berichtete, dass meine Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte.
Seitdem sind dreieinhalb Wochen vergangen. Meine Mutter ist von der Intensivstation in die Reha verlegt worden. Langsam erarbeitet sie sich ihre Fähigkeiten zurück. Ich bin ihr Vorsorgebeauftragter geworden, in Kontakt mit Behörden und Anträgen. Auch mein Vater, der allein zu Hause zurückblieb, braucht viel Aufmerksamkeit.
In der Zwischenzeit brach sich mein Schwiegersohn beim Skaten beide Hände, und seither unterstütze ich ihn tagsüber ebenfalls.
So neigt sich dieser große Sommer dem Ende zu. Vieles wurde infrage gestellt, vieles musste neu geordnet werden. Doch eines bleibt: das Jetzt. Der Moment, in dem wir leben und der uns immer wieder herausfordert, uns selbst zu finden und zu behaupten.
„Ich bin“ – das ist die eigentliche Erkenntnis dieser Zeit.
© 2024 - Hans Jürgen Groß
Zusammenfassung:
Ein Sommer voller Herausforderungen: Ein persönlicher Rückblick auf einen turbulenten Sommer, geprägt von unerwarteten Ereignissen wie dem Tod eines Geschäftspartners, technischen Problemen, gesundheitlichen Herausforderungen in der Familie und persönlichen Krisen. Der Text reflektiert über die Bedeutung des "Jetzt" und die Fähigkeit, mit Veränderungen umzugehen.
Siehe auch:
- Hingabe und Annahme als Lebensweg (29. Juni 2024) -https://tinyurl.com/28e9r5pw
- Selbstfürsorge im Sturm des Lebens (07. Juli 2024) - https://tinyurl.com/26h9q8k2
Stichworte:
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