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Die Legende vom Körler Esel - eine alte Geschichte neu erzählt

Löse die Stränge der Fehler und Irrtümer,
die uns binden, genauso wie wir loslassen,
was uns bindet an die Schuld anderer.

(aus: Aramäische Version "Vater unser")



Im Tal der Fulda, eingebettet zwischen mystischen Hügeln, liegt das Dorf Körle im Melsunger Land, nahe der alten Residenzstadt Kassel. Die Erzählungen, die sich um diesen Ort ranken, sind zahlreich, doch keine Geschichte ist so bekannt wie die des Körler Esels. Diese Legende, die von Schmerz, Schuld und Reue handelt, birgt eine wertvolle Botschaft über Mitgefühl und Verantwortung.

Vor vielen Jahren, als die Narben der Befreiungskriege(1) noch frisch waren, waren die Menschen von den Qualen des Krieges gezeichnet. Sie hatten Plünderung, Zerstörung und Vergewaltigung erlebt. Viele Männer wurden zwangsweise rekrutiert und in den Krieg geschickt. Dabei nahmen viele Schäden an Seele, Leib und Leben, und den Familien wurde der Hauptversorger genommen, was zu Hunger und Armut führte. Krankheiten breiteten sich aus und gingen mit den unruhigen Zeiten einher. Diese Belastungen prägten das Leben der Menschen tiefgreifend.

Zu jener Zeit kam der Pfarrer von Wollrode regelmäßig nach Körle, um den Gottesdienst zu halten, denn die Pfarrstelle in Körle war unbesetzt. Er ritt auf einem treuen Esel, der ihn stets begleitete und an der Kirchhofsmauer angebunden wurde, während der Pfarrer seinen Pflichten nachging.



Eines sonnigen Tages hatte sich eine Gruppe Knaben um den Esel versammelt. In ihrer Rüpelhaftigkeit begannen sie, das Tier zu ärgern und zerrten an ihm, sodass er hinten und vorn ausschlug. Lachend und voller Schadenfreude sprangen sie um den Esel herum und verstärkten die Qual. Da kam eine Bauernmagd mit einer Mistgabel vorbei. Sie schimpfte anfangs die Jungen, für ihr tun, glaubte aber dann, das grausame Spiel der Knaben würde dem Esel gefallen. Zu tief hatten sich die eigenen Erfahrungen und ihr Schmerz in ihre Seele eingebrannt, dass sie die Notlage des Tieres nicht erkannte. So begann auch sie, mit der Mistgabel den Esel zu „kitzeln“. Das arme Tier sprang hinten und vorn hoch, fing an zu schreien, bis es schließlich tot zusammenbrach. In Angst um die persönlichen Folgen ihres Handelns machten sich die Jungen und die Bauernmagd auf und davon.

Als der Pfarrer aus der Kirche trat und seinen Esel tot vorfand, war er zutiefst erschüttert. Das Tier, das ihn so viele Jahre begleitet hatte, war nicht nur ein einfaches Transportmittel, sondern ein treuer Freund. Ein alter Bauer, der das Geschehen mitangesehen hatte, erzählte dem Pfarrer von der Tat. Es begann eine Suche nach den Schuldigen, jedoch konnten die Übeltäter nicht ermittelt werden. Da dem Pfarrer jedoch ein Ausgleich für seinen Verlust zustand, traf die von der Obrigkeit festgesetzte Strafe die gesamte Gemeinde. Die Körler mussten seitdem einen jährlichen Zins, den sogenannten „Eselszins“, zahlen. Im Volksmund verbreitete sich schnell der Name „Kitzelgeld“ für diese Strafzahlung (2).

Doch damit fand die Geschichte noch kein Ende. Diese Begebenheit hinterließ tiefe Spuren in den Herzen der Körler. Lange Zeit war das Schicksal des Esels eine Quelle der Scham und Wut auf die Übeltäter, besonders wenn sie von Außenstehenden daran erinnert und damit aufgezogen wurden. Zahlreiche Schlägereien fanden hierin ihren Hintergrund.

Doch im Laufe der Jahre wandelte sich der Blick auf das Geschehene. Die Körler erkannten, dass aus Schmerz Weisheit und Stärke entstehen kann. Sie feierten die Legende als Erinnerung daran, dass jede Handlung, ob gut oder böse, Auswirkungen hat und eine Vorgeschichte besitzt, dass wahre Stärke im Bekenntnis der eigenen Schuld und Schwäche sowie im Mitgefühl und Verständnis für das Geschehene liegt.

In der Würde, das Kainsmal zu tragen, errichteten sie ein Denkmal für den Esel auf dem Dorfplatz. Diese Bronzestatue, die das Tier in seiner ganzen Sanftmut darstellt, dient als Mahnung und als Symbol für Mitgefühl und Gemeinschaft. Sie erinnert die Menschen daran, wie wichtig es ist, Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen und mit Respekt und Fürsorge miteinander umzugehen. Heute ist die Geschichte des Körler Esels nicht mehr eine Quelle der Schande, sondern eine des Stolzes, der überwundenen Qual, welche die Dorfbewohner über Generationen miteinander verband.

Die Legende des Körler Esels lehrt uns, dass wir durch Achtsamkeit und Empathie eine friedlichere und respektvollere Gemeinschaft aufbauen können. Sie zeigt, dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und durch positive Veränderungen eine bessere Zukunft schaffen können.

Anmerkungen:

(1) Die Befreiungskriege, die von 1813 bis 1815 dauerten, waren eine Reihe von militärischen Konflikten, die zur Befreiung Europas von der Vorherrschaft Napoleons führten. Diese Kriege fanden in verschiedenen Regionen Europas statt, darunter auch im heutigen Deutschland. Der Bereich Nordhessen und Kassel spielte dabei eine wichtige Rolle.

Historischer Hintergrund

Die Gebiete rund um Melsungen waren Teil des Kurfürstentums Hessen, das während der napoleonischen Ära erhebliche Veränderungen erlebte. Nachdem Napoleon 1806 Preußen und seine Verbündeten besiegt hatte, wurde das Kurfürstentum Hessen von den französischen Truppen besetzt. 1807 wurde es in das neu geschaffene Königreich Westphalen integriert, das von Napoleons Bruder Jérôme Bonaparte regiert wurde. Kassel wurde zur Hauptstadt dieses Königreichs.

Die Befreiung Nordhessens

Im Jahr 1813, nach Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig, begann der Rückzug der französischen Truppen aus Deutschland. Dies war der Startschuss für die Befreiungskriege in vielen Regionen. In Nordhessen und Kassel formierten sich zahlreiche Widerstandsgruppen und lokale Milizen, die sich den zurückweichenden französischen Truppen entgegenstellten.

Militärische Auseinandersetzungen: Es kam zu mehreren Gefechten in der Region, bei denen die Alliierten (bestehend aus Preußen, Österreich, Russland und anderen) gegen die französischen Truppen und ihre Verbündeten kämpften. Die Stadt Kassel wurde mehrfach umkämpft, bevor sie schließlich befreit wurde.

Rückkehr des Kurfürsten: Nach der Befreiung Kassels im Oktober 1813 kehrte der Kurfürst Wilhelm I. von Hessen-Kassel aus seinem Exil zurück und übernahm wieder die Kontrolle über sein Territorium. Dies markierte das Ende der französischen Herrschaft in Nordhessen und die Wiederherstellung des Kurfürstentums Hessen.

Bedeutung der Befreiungskriege für Nordhessen

Die Befreiungskriege hatten tiefgreifende Auswirkungen auf Nordhessen und Kassel. Die Region wurde von den Folgen der Kriege schwer getroffen, darunter Zerstörungen und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Dennoch führten die Kriege auch zu einem gesteigerten Nationalbewusstsein und einem Gefühl der Einheit unter den Deutschen, das später zur Gründung des Deutschen Reiches beitragen sollte.

Denkmal für die Opfer der Befreiungskriege (Kassel)
Unterschrift: Den für ihre Heimat gefallenen Hessen 1806 - 1815



(2) In einem Schreiben vom 31. Januar 1821 an den Körler Zentgreben wird bezeugt, dass die Gemeinde Körle an den Metropolitan zu Spangenberg jährlich am Michaelistag 10 Albus sogenanntes Kitzelgeld zahlen musste. Mit diesem Schriftstück wird die Authentizität der Legende, sowie deren zeitliche Verortung belegt. 

Allgemein: Die Neubearbeitung dieser Legende fiel mir schwer. Ich benötigte einige Monate, um die Botschaft hinter der Erzählung zu erkennen und in Szene zu setzen. Erst in der zeitlichen Gesamtbetrachtung wurde mir dies möglich. 
 
Die Geschichte ist in verschiedenen Versionen bekannt geworden. Eine Version, an der sich auch meine Erzählung orientiert, finden Sie auf der Seite der Gemeinde Körle

Eine andere Version aus dem Jahr 1935, die unter dem Titel "Die Magd von Körle" erschien, finden Sie unter dem folgenden Link https://tinyurl.com/2pdrczbq


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Alle Sagen und Legenden aus dem Melsunger Land


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Zusammenfassung:

Die Legende erzählt die Geschichte des Körler Esels, der von einigen Jungen und einer Bauernmagd zu Tode gequält wird. Der Pfarrer, der seinen Esel als treuen Freund sieht, ist tief erschüttert. Die Tat hat weitreichende Folgen: Die Gemeinde muss einen Eselszins zahlen und die Geschichte prägt das Dorf für Generationen.

Im Laufe der Zeit jedoch wandelt sich die Bedeutung des Geschehenen. Die Nachgeborenen erkennen, dass sie lernen können, dass Mitgefühl und Verantwortung wichtige Werte sind. Sie errichten ein Denkmal für den Esel und die Geschichte wird zu einem Symbol für die Überwindung von Schmerz und Leid.




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