Die Wangerooger Dünenfrau - Eine Geschichte von Vergebung und Heilung, inspiriert von einer alten Sage
Es war einmal eine junge Kaufmannstochter, die früh lernte, dass Disziplin und strenger Gehorsam der Schlüssel zum Erfolg und zur Macht seien. Von Kindesbeinen an wurde sie auf ein Leben als Ehefrau eines erfolgreichen Mannes aus Kaufmannskreisen vorbereitet.
Eines Tages verliebte sie sich in einen Piraten, den sie zufällig auf der Straße traf. Sie sehnte sich nach Abenteuer und der Freiheit, die sie in ihrem bürgerlichen Leben nicht finden konnte. Der Pirat versprach ihr, sie aus ihrem engen Herkunftsumfeld zu befreien, sie zu heiraten und in unbekannte Länder mitzunehmen.
Begeistert von den Versprechungen und der Wildheit des Mannes sowie von dem unbekannten Gefühl, das sie mit ihm verband, verließ sie heimlich ihr altes Leben und folgte dem Mann ihrer Träume. Doch ihre Hoffnungen und Erwartungen wurden schnell enttäuscht.
Statt in die Ferne entführte der Pirat sie auf eine kleine Insel namens Wangerooge. Er und seine Gefolgsleute zwangen sie, ihnen zu dienen und Dinge zu tun, die sie nicht wollte und ihre Seele verletzten. Jeden Abend betete sie um Befreiung aus ihrer misslichen Lage, doch ihre Gebete schienen ungehört zu bleiben.
Der Pirat verkaufte die schöne Frau an einen alten, hässlichen Fischer, der sie zwang, ihn zu heiraten. Von da an musste sie den Haushalt führen und seine Fantasien erfüllen. Die junge Frau war verzweifelt, und innerlich zerbrach sie jeden Tag ein Stück mehr. Sie gab sich ihrem Schicksal hin.
Nachdem ihre Tränen versiegt waren und die Hoffnung ihrer Gebete gebrochen war, erhielt sie eines Tages die Nachricht, dass ihr Ehemann beim Fischen im Meer ertrunken sei.
Endlich war die junge Frau frei, doch die Erlebnisse der Vergangenheit hatten ihre Spuren hinterlassen. Ihr Herz war eng und ängstlich geworden, und sie konnte ihre neu gewonnene Freiheit nicht genießen. Sie erschrak, wenn ihr ein Mann auf der Straße begegnete, und ohne erkennbaren Grund schien sie plötzlich in eine andere Welt zu entschwinden.
Ihr teilweise kindisch anmutendes Verhalten stieß auf Unverständnis bei den Menschen im Dorf, ebenso wie ihre Entscheidung, als Witwe weiterhin ein weißes Kleid zu tragen. Man glaubte auch, dass sie die Insel nun verlassen würde, doch sie blieb. Oftmals traf man sie allein am Strand und in den Dünen, in Selbstgespräche vertieft.
Die Zeit verging, und die Wellen schlugen unaufhörlich an den Strand. So wie der Wind alle Spuren im Sand verweht, schien die Zeit auch die alten Wunden zu verdecken. Und genauso wie das Gras in den Dünen neue Wurzeln schlug, schien die Frau langsam wieder im Leben Fuß zu fassen.
Das Meer und die Insel halfen ihr dabei. Sie fand in sich selbst all das, wonach sie früher im Außen gesucht hatte, und die Natur gab ihr das, was sie innerlich entbehrte. Obwohl die Vergangenheit immer noch auf ihr lastete, hatte sie inneren Frieden gefunden. Kein Teil von ihr sehnte sich nach Rache oder empfand Wut. Sie hatte erkannt, dass Vergebung die höchste Form der Liebe ist – Vergebung gegenüber sich selbst und anderen.
Sie beschloss, das Haus des Fischers zu verkaufen und sich ein Häuschen in den Dünen bauen zu lassen. Von diesem Moment an lebte sie allein und in Freiheit, umgeben von der Schönheit und Ruhe der Natur.
Jedoch blieb sie für einige Menschen im Dorf mit ihrer Eigenart unverständlich. Man schrieb ihr Eigenschaften zu und erzählte Geschichten, dass sie verflucht und eine Hexe sei, die Wanderer in den Dünen in den Tod locke. Zunächst schmerzten diese Erzählungen die Frau. Doch im Laufe der Zeit begegnete sie ihnen mit Liebe.
Ihr Wissen über das Leben gab sie an diejenigen weiter, die den Mut hatten, die Heilung in sich selbst zu suchen und ihr in den Dünen zu begegnen. Besonders den Mädchen und jungen Frauen galt ihre Aufmerksamkeit.
Und bis heute weht ihr Geist über der Insel, hilft den suchenden Menschen, Heilung in den Wangerooger Dünen zu finden – bei Sand, Meer und Wind.
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Diese Geschichte wurde von der alten Sage „der verfluchten Jungfrau von Wangerooge“ inspiriert.
Text, Video, Audio und Fotos © 2023 - Hans Jürgen Groß
Die Sage im Original:
Die Sage von Wangerooge rankt sich um eine verfluchte Jungfrau, die auf der Insel gefangen war. Sie soll in den Dünen auf die Wanderer gelauert und sie in den Tod gelockt haben. Auch heute noch soll sie manchmal auf der Insel gesehen werden. Doch wer ist diese geheimnisvolle Dame?
Einige sagen, es sei die Tochter eines reichen Kaufmanns, die von einem Fürsten entführt und auf die Insel gebracht wurde. Andere behaupten, sie sei eine Hexe, die von den Bewohnern der Insel verbannt wurde. Niemand weiß es genau – doch die Legende von der verfluchten Jungfrau von Wangerooge ist eine der bekanntesten Geschichten aus Ostfriesland.
Quelle: https://ost-friesland.de/ostfriesland-legenden-und-mythen/
Eine verkürzte Vor-Version meiner Geschichte unter dem Namen „Die (verfluchte) Jungfrau von Wangerooge – eine alte Sage neu erzählt“ gibt es hier zu hören: