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aus den Rütte Tagebüchern: frühe und späte Begegnung mit dem Erlkönig

Grünes Buch, grüne Tinte. So sind meine Rütte Tagebücher gehalten, aus denen ich hier nun einen kleinen Auszug aus dem Jahr 2008 gebe. 49 Jahre zählte ich in diesem Sommer, als ich vom 28. Juni bis zum 08. Juli dort weilte. Es war bereits mein dritter Besuch in diesem kleinen Schwarzwalddorf; der erste in meinem achten Jahrsiebt.

In der biografischen Analyse wird dieses Jahrsiebt, als Spiegel des Zweiten gesehen, also der Zeit vom 7 bis zum 14ten Lebensjahr. Viel schulische Gewalt und Ausgrenzung musste ich in diesem 2ten Jahrsiebt erleben und mit einer Grenzverletzung begann auch dieses achte Jahrsiebt.

Zu Beginn des Jahres hatte ich eine kurze Zeit in dem Ferienpark am Weißeinhäuser Strand verbracht (siehe hier). Zeit für mich, Zeit ganz ohne Familie. Ich genoss die Zeit am Meer, verbrachte viel Zeit in dem Erlebnisbad und im dortigen Saunabereich. Es war eine erholsame Zeit, bis zu dem Tag, als sich ein Mann hinter mir in die Sauna schlich. Er setzte sich neben mich, nahm meine Hand und legte diese an sein Geschlecht, während er dieses bei mir ebenso tat. Ich stand auf und verließ fluchtartig den Saunabereich. Ich fühlte mich verwirrt. Was war da geschehen? – Auch wenn ich das Geschehen als eine unbedeutende Episode einstufte, konnte ich die kommenden Nächte schlecht schlafen. Immer wieder trat das Geschehene vor mein inneres Auge. Ich mied das Schwimmbad mit der Sauna und nahm mir so selbst ein Stück Lebensqualität. Zwei Freundinnen erzählte ich am Telefon von dem erleben.

Nun knapp ein halbes Jahr später hielt ich mich in dem kleinen Schwarzwalddorf auf, und bearbeitet Themen, die das Leben mir gerade bot. In meiner frühen Kindheit, ich war in etwa ca. 3 – 5 Jahre alt gewesen, hat mein Vater mir immer Lieder vorgesungen und Gedichte erzählt. An eines der Gedichte erinnerte ich mich intensiv. Es war der Erlkönig von Goethe. Ausgerechnet dieses traurige Gedicht las mein Vater mir vor. Warum tat er dies, was wollte er dem Kind damit sagen, fragte ich mich damals. Gut eine Woche verbrachte ich damit, mich intensiv mit diesem Gedicht auseinanderzusetzen.

Wen ich heute mit dem Abstand von 14 Jahren meine Aufzeichnungen hierzu lese, fällt mir auf, dass ich dem Thema Missbrauch einen großen Raum in meiner Interpretation geschenkt habe. Die Spuren die das Geschehen zu Beginn des Jahres hinterlassen haben, waren größer, als ich mir dies damals selbst eingestehen wollte.


Der Erlkönig von Johann Wolfgang von Goethe, veröffentlicht 1782


Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Wer stellt die Frage? Was ist der Hintergrund der Frage? Eine Beobachtung?, ein Geräusch?

Ein Reiter, der durch die Dunkelheit seinen Weg zu finden scheint.

Es ist der Vater mit seinem Kind;

Der Vater (nicht ein Vater), also DER Vater mit seinem Kind

Seiner Tochter? Seinem Sohn? Wie alt ist das Kind? Was ist der Grund für den Ritt?
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.

Es ist ein Knabe, dem er anscheinend sicheren Halt und Wärme gibt.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –

Der Vater erkennt, trotz des Reitens, das der Sohn ängstlich ist, sich fürchtet.

Siehst Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? –

Der Sohn nimmt einen König, den Erlkönig, ein Elfenwesen wahr, der ihm Furcht vermittelt. Ein König mit den Insignien der Macht, der Krone und dem Schweif ausgestattet. Für was steht dies? - Ein Schweif ist ein Schwanz. Der Schwanz des Mantels, oder gar der Schwanz (Penis) des Mannes? Was ist es, was der Sohn sieht und das ihm Angst bereitet?

Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –

Der Vater will oder kann die Angst des Kindes nicht erkennen. Er ist Realist, scheint den Sohn sicher zu führen und zu halten. Er gibt dem Sohn eine „natürliche“ Erklärung, etwas, was seiner rationalen erwachsenen Realität entspricht. Ein Nebelstreif ist es sicherlich, obwohl er diesen selbst nicht gesehen hat.

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!

Der Erlkönig, vor dessen Anblick das Kind bereits erschrak, spricht den Knaben nun direkt an, will ihn verführen, so wie wir es aus den „guten Onkel“ Geschichten kennen. Die Angst des Kindes war also nicht unbegründet, spürt er die Energie, die von dem Mann ausgeht.

Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;

Er verspricht schöne Spiele, lockt damit. Welche Art von Spiel? Wer wird mit wem, was spielen?

Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“

Bunte Blumen, die Gewänder der Mutter. Es besagt, dass sich der König, sich selbst von den Gewändern der Mutter verführen ließe, dass sie für ihn anziehend und erregend sind. Was sagt dies über diesen Mann, den König aus? Spricht er die weibliche Seite des Jungen an?

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? –

Der Junge widersteht der Verführung. Weder das Spiel, noch die Blumen und die Gewänder können ihn überzeugen, ihm die Sicherheit geben, sich einzulassen. Die Angst nimmt vielmehr zu. Hilfesuchend fleht er den Vater an. Es ist ein Aufschrei der Not: „Vater, Vater“, gleich Jesus am Kreuz.

Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. –

Mit ebensolcher Eindrücklichkeit (der Wortverdoppelung) führt er die Not des Kindes ad Absurdem. Kann, oder will die Not nicht hören. Wem sagt er: „ sei ruhig, bleib ruhig“? Dem Kind oder sich selbst? Ist er überfordert, dass er nicht hören will? Warum spielt er die Dramatik der Situation noch weiter herunter, indem er den Wind „säuseln“ lässt und nicht toben, rauschen oder rascheln. Säuseln klingt so harmonisch, so harmlos. Was lässt den Vater so handeln? Ist er zu sehr mit sich selbst beschäftigt, ist der Kampfes müde? Ausgebrannt? Ist der Knabe für ihn eine Last, wollte er gar nicht reiten?

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“

Der Erlkönig, der Verführer, der „gute Onkel“ ändert seine Taktik und spricht nun die männliche Seite des Jungen an, indem er die Genüsse der Weiblichkeit, in Form seiner Töchter verspricht, welche sich im nächtlichen Reigen mit ihm tanzen, wiegen und singen versprechen. Dies erinnert an die Sirenen, die weibliche Verführung und Hingabe im erotischen Spiel. Auch Faust erlebt Ähnliches zur Walpurgisnacht.

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –

Und wieder der Hilfeschrei an den Vater… „mein Vater, mein Vater“. - Der Junge ist auch für diese Art der Verführung nicht empfänglich; er schafft es aber auch nicht, ihr allein zu entfliehen.

Er sieht das sich die Töchter am düsteren Ort befinden, etwas Negatives, Dunkles mit ihm vorhaben, wo es nicht um ihn, sondern ausschließlich um die Bedürfnisbefriedigung der Anderen geht.

Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. –

Und der Vater reagiert alt bekannt. Die Ansprache des Vaters, „mein Sohn, mein Sohn“ deutet auf die innere Not des Vaters hin, heißt hier jedoch: „Jetzt ist es gut; Schluss, ich will nichts mehr hören, es reicht!“ - Er kann und will die Not des Kindes nicht sehen und so sprechen die alten Weiden, die im Licht des Mondes grau erscheinen, für eine rationale Lösung.

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“

Nun lässt der Erlkönig, der Missbraucher seine Maske fallen. „Ich liebe Dich“, sagt er, wobei es hier nicht um das bedingungslose Lieben, sondern um das besitzen wollen, das vereinnahmen geht, und dies auch gleich noch konkretisiert: „mich reizt deine schöne Gestalt“. Nun ist es gesagt, das, was die ganze Zeit im Raum stand, was der Junge sofort erkannte. Man will sich an seiner schönen Gestalt gütig tun, ihn besitzen, missbrauchen. Und auch die Entschlossenheit, es sich zu nehmen, auch gegen den Willen des Kindes wird klar ausgesprochen: „und bist du nicht willig, so brauche ich Gewalt“, nehme ich dich mit Gewalt, tue ich dir Gewalt an.

Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –

Und dem Sohn bleibt nichts mehr, als dem Vater zu berichten, das man ihn missbraucht hat, er angefasst, ihm Leid zugefügt wurde. - Es ist zu spät! Alle Hilferufe waren vergeblich, wurden nicht gehört.

Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,

Nun erst, wird der Vater wach, er erkennt die Situation, die Notlage. Er versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Nun reitet er geschwind, nicht mehr langsam wie zuvor. Es gerät ins tun und handeln, während der Sohn nur noch ächzen kann.

Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

Er ist gebrochen, innerlich zerstört, wie das Röslein auf der Weide, und stirbt den psychischen, oder gar realen Tod, noch bevor der Vater den Hof, den Ort der Sicherheit erreichen kann.

Und der Vater? Er hat versagt, obwohl er durch die Nacht reiten, seinem Kind Sicherheit und Wärme zu geben glaubte. Er konnte seinem Kind nicht helfen, da er seine Ahnungen, seine Not und Hilfeschreie nicht hören wollte, bzw. konnte. Er trat erst in Aktion, als es zu spät war, das Unglück bereits geschehen war. Sein Realitätssinn, sein Verkennen der Zeichen, sein nicht verstehen, ließen ihn scheitern.

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Ein Annäherungsversuch

Die Rahmenhandlung der Ballade beschreibt das Wirken des Vaters. Er reitet mit einem kranken, fiebrigen Kind durch die Nacht. Als er endlich an seinem Ziel angelangt, dort wo er Hilfe erwartet, ist das Kind gestorben.

In dem mittleren Teil der Ballade, der eingeschlossene Geschichte, wird das Erleben des Kindes beschrieben. Wir erfahren von den Verführungsversuchen, bis zur schlussendlichen Gewalt gegen das Kind, dessen Worten niemand Beachtung schenkt. Die Bilder erinnern stark an Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung. Man kann sich fragen, wo diese Fieber Bilder ihren Ursprung fanden, wenn hierfür keine Verankerung in der Wirklichkeit gegeben ist.

Hat der Vater falsch gehandelt? Hat er Schuld auf sich geladen? Warum gibt es nur Hilfe auf diesem Hof? Um welche Art Hof handelt es sich? Um einen Bauernhof, einen Königshof? Warum konnte niemand anderes helfen? Hätte der Sohn auf dem Hof wirklich Rettung gefunden, wenn der Vater rechtzeitig angekommen wäre? Und warum reitet der Vater in der Nacht dorthin? Hat ihn jemand geschickt? Wäre es für das fiebrige Kind nicht besser gewesen, an seinem Ursprungsort zu bleiben? All dies bleibt unbeantwortet.

Waren die Verführungsversuche, die Gewalt des Schattenwesens die Ursache für den Tod des Kindes, oder doch eher die zu große Realitätsbezogenheit und das Verkennen der Lage durch den Vater?

Es ist leicht in dem Vater einen Schuldigen zu sehen, der nicht schnell genug unterwegs war, nicht angemessen auf die Zeichen der Erkrankung achtete. Er hat dem Sohn das gegeben, zu dem er in der Lage war. Halt, Wärme und den Rettungsversuch in der dunklen Nacht. Seine menschlichen Fähigkeiten haben nicht ausgereicht. Sein väterliches Vermögen konnte den Sohn nicht retten.

Handelt es sich bei dem Erlkönig um einen wirklichen Verführer, Kinderschänder, oder ist er eine Metapher für den Tod. Doch warum sollte der Tod verführen, sich etwas mit Gewalt nehmen, da ihm jegliches Leben am Ende doch zufällt? Und könnte ein Missbrauch, eine Misshandlung nicht Ursache der fiebrigen Erkrankung des Kindes sein?

Der Erlkönig als Tod würde dem Vater in ein besseres Licht rücken. Wer ist in der Lage, den Kampf gegen höhere Mächte zu gewinnen? Der Erlkönig als realer Kinderschänder setzt den Vater in ein anderes Licht. Das hätte er doch wahrnehmen müssen, höre ich die Menschen in diesem Zusammenhang sagen. - Doch er hat es nicht gehört, er konnte es nicht wahrnehmen. Es lag außerhalb seiner Fähigkeiten. Er hat sein Bestes gegeben, das, was er zu leisten in Stande war.

Für sich, und nur für sich muss er mit der Tatsache leben, zu spät angekommen zu sein, und dies unabhängig des realen Hintergrundes des Geschehens. Dies ist die Tragik der Ballade.

Wie lebt es sich in der Rolle des Vaters in der Zukunft? Kann er sich selbst verzeihen? Kann der Frieden finden?

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Warum hat mir mein Vater dieses Gedicht, diese Ballade erzählt?

Hierauf fehlt mir jegliche Antwort. Ich glaube fest daran, dass er hier einem nicht weiter reflektierten Handlungsimpuls folgte. Er war zu diesem Zeitpunkt selbst erst um die 25 Jahre alt und fand vielleicht in den Liedern die Harmonie, welche er in seiner Kindheit nicht erleben durfte. Wichtig für mich ist jedoch die Botschaft, die ich mir mit der Beschäftigung mit dem Gedicht selbst gegeben habe:

Ich bin als Dein Vater nicht allmächtig, so sagt er mir. Meine Fähigkeiten reichen nicht aus, um alles Leid von Dir zu nehmen. Ich nehme Deine Ängste wahr, so wie der Vater in dem Gedicht. Jedoch bin ich nur fähig, dir meine Liebe in dem Erzählen dieser Geschichte zu schenken.

Ja, er konnte nicht verhindern, dass ich in der Schule ausgegrenzt, gehänselt, geschlagen und misshandelt wurde. Ebenso wenig konnte er anderes Leid aus meinem Leben tilgen. Viel zu häufig war er nicht anwesend; war arbeiten, musste schlafen, da er aus der Schicht kam.

Doch seine Lieder und Gedichte sind in meiner Erinnerung geblieben.


Text und Fotos: © 2008 / 2022 Hans Jürgen Groß







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