auf der Documenta 4 (1968) - oder: persönliche Erinnerung des Vergessenen
Unsere Existenz besteht darin, Teil der gelebten Gegenwart zu sein, diese mitzugestalten und das Zeitgeschehen um uns herum, einem Zeugen gleich, zu konsumieren und zu dokumentieren. Unsere gegenwärtigen Gedanken und Gefühle sind der Vergangenheit zugewandt, die unser Handeln im Hier und Jetzt bestimmen und uns als Basis zur Konstruktion einer Zukunftsphantasie dienen. Selbst ein im vollen Bewusstsein getaner Schritt in der Gegenwart, wird durch unsere Sinne erst realisiert, wenn das Erleben bereits vergangen ist. Daher ist unser (Er)Leben nie absolut, sondern immer relativ. Dies trifft auch auf unsere Erinnerungen, gar auf unser Selbstbild zu. Wir sind das, was wir glauben zu sein. Wir handeln so, wie wir glauben, handeln zu müssen. Dabei wird unserer Glauben durch eigenes und fremdes Erleben bestimmt, dem ich selbst Deutung gebe.
Kaum jemand erinnert sich vollkommen an das Erleben seiner Kindheit. Gerade die ersten sieben Jahre sind in einem kaum greifbaren Nebel verborgen. Dies zeigt zumindest meine Arbeit in dem Betrachten der Biografien meiner Klienten. Fotos aus unserem Kindheitsalbum fallen uns ein, wenn wir an diese Zeit zurückdenken. Geschichten, die Eltern, Großeltern von uns erzählten, ergänzen den Blick auf diese vergangene Zeit. Manchmal jedoch geschieht es, dass aus dem „Nichts“ Versatzstücke von Sinneswahrnehmungen aus dieser Zeit in uns auftauchen.
Auslöser sind Wahrnehmungen in der Gegenwart, die an tief verborgene Anker gebunden sind, und die wir häufig wie ein „Déjà-vu“ erleben. „Ja, diesen Geruch habe ich doch schon einmal wahrgenommen“. „Oh, diesen Geschmack kenne ich doch von irgendwoher“. Wenn es uns in diesem einmaligen Augenblick gelingt, den hier gebotenen Faden zu fassen, ist es möglich, eine ganze Geschichte, wie einen Fisch an der Angel an Land zu ziehen.
Würdet ihr mich fragen, welche Documenta ich zuerst erinnere, wäre die Antwort leicht.
Wie ihr wisst, nicht, was die Documenta ist? „Die Documenta ist die weltweit bedeutendste Reihe von Ausstellungen für zeitgenössische Kunst. Sie findet alle fünf Jahre statt (ursprünglich alle vier Jahre) und dauert jeweils 100 Tage. Die erste documenta wurde 1955 veranstaltet. Standort der Documenta ist Kassel.“ So zumindest fasst es Wikipedia zusammen. Wichtig an dieser Beschreibung ist für mich der letzte Satz. Die Documenta ist nicht nur eine Weltkunstschau, sondern ein Ereignis der Region rund um Kassel, da sich die Stadt während dieser Zeit einer Metamorphose unterzieht. Plötzlich verändert sich das Stadtbild. Die kunstinteressierte Welt vereinnahmt den Ort und prägt ihn auf eigene, fragile Art auf kurze Zeit. Die regelmäßig wiederkehrenden Skandale rund um die Ausstellung sind Ausdruck im Streben nach Gleichgewicht und somit ein Spiegel über den aktuellen Zustand der Gesellschaft. Und all dies findet in direkter Nähe zu meinem Wohnort statt. Das macht die Documenta zu etwas Besonderem für mich.
„Ja, nun, aber … an welche Documenta erinnerst Du Dich zuerst?“, nehme ich die imaginierte Frage wahr. - „Meine erste Documenta war die Nummer sechs aus dem Jahr 1977, ganz ohne Zweifel“, wäre meine Antwort hierauf. Ganz klar zeichnet sich die Erinnerung hieran ab. Gerade mal 18 Jahre alt, mit Führerschein und VW-Käfer ausgestattet, ging es mit einem Freund nach Kassel. Wir liefen durch die Stadt, saugten die Atmosphäre der Welt in uns auf, belauschten Gespräche der anwesenden Künstler, fühlten Grenzenlosigkeit und Freiheit. Die Welt und alles, was vor uns lag; unendlich, weit und auf uns wartend.
„Oh ja, das kann ich gut nachvollziehen. Die Zeit mit achtzehn ist und war für uns alle eine Aufbruchszeit. Aber warum, die lange Vorrede von Dir?“, höre ich Dich fragen.
Und genau auf dieses Stichwort, im imaginären Gespräch, habe ich gewartet. Nun ist es an der Zeit, Dir / Euch ein altes Foto zu präsentieren. Ein Bild, welches ich im Jahr 2009 aus einer Diareihe meines Vaters gescannt habe und das seitdem in die gleiche Vergessenheit geriet, wie all die Jahre zuvor.
Und jetzt, zu der Zeit der Documenta 15, drängt dieses Bild sich in meine Wahrnehmung zurück. „Zufällig“ stieß ich hierauf, als ich nach einem Foto suchte. Auf dem Bild sind meine Mutter, Großmutter und ich zu sehen. Der Fotograf, mein Vater. Im Hintergrund des Fotos, ein Gebäude. Das Kasseler Fridericianum, Hauptausstellungsort der Documenta. Vor dem Gebäude zahlreiche Menschen. Ein Funkwagen, der, mit seiner Antenne, das Gebäude weit überragt. Frauen in Minikleidern, Männer mit Anzug und Krawatte flanieren am Rand des Bildes. Das Gras des Friedrichsplatzes im satten Grün. Schilder, welche den Randbereich der Grasfläche begrenzen, verbieten das betreten. Keine Person ist auf dem, heute sehr belebten, Platz zu sehen.
Ich selbst nehme mich, 9-jährig, mit Lederhose und orangen Socken wahr. Beides vertraut. Ja, an diese Lederhose erinnere ich mich genau. Es war meine zweite, und letzte Lederhose überhaupt. Im Vergleich zu dem wildledernen Erstobjekt, war diese in Glattleder gehalten. Immer zu groß, nie meinen Proportionen entsprechend, gehörte sie zu den ungeliebten Kleidungsstücken, welche mir von meiner Mutter vorgegeben wurde. Anders die orangefarbenen Socken. Ich liebte die auffälligen Farben dieser Kunststoffsocken. Grün, rot und orange waren die bevorzugten Farben der Zeit. Überwunden die Jahre, in denen selbstgestrickte Wollsocken, mit Gummiband meine Füße und Beine gekleideten. Das Kribbeln und jucken auf der Haut, scheinbar unerträglich. Der Haarschnitt kurz, wie es in der Zeit, vor dieser Zeit üblich war. Keine Brille ziert mein Gesicht. Auch dies stimmig erinnernd. Trotz massiver Kurzsichtigkeit, ohne räumliches Sehen, weigerte ich mich, eine Brille zu tragen. Die heute wohl als "nerdig" zu bezeichnenden Brillengestelle der damaligen Zeit sorgten in der Schule für Spott und Ausgrenzung.
Es war ein üblicher Sonntagsausflug, so wie wir ihn damals, in dieser familiären Zusammensetzung, häufig unternahmen, der uns an diesem Tag im Sommer des Jahres 1968 nach Kassel zur Documenta 4 führte. Und dieser Ausflug veranlasste meinen Vater zu diesem Bild. Dem einzigen Foto, von der Weltkunstausstellung in diesem historischen Jahr. Nichts erinnert in der Diasammlung der Familie an den öffentlich, zugänglich 58 Meter phallisch in die Höhe ragende Luftschlauch, von Christo. Nichts zeigt dies Bild von den Kritikern der Ausstellung, die das Fehlen zeitgenössischer, radikaler Strömungen in der Kunst bemängelten, nichts an die protestierenden Studenten des Jahres.
Dieses Foto ist ein Zeugnis unserer kleinen familiären Welt. Die Menschen vertraut, die bestimmenden Themen der Zeit in Aussehen und Kleidung belegt. Das beschriebene Ereignis, hat in meiner Erinnerung keinerlei Spuren hinterlassen, mein Leben, anders als die neun Jahre später stattfindende Ausstellung, nicht weiter geprägt.
Und entgegen allen Vermutungen über Wiedergeburten, deren Beleg nicht geführt werden kann, darf ich mit Gewissheit sagen: „Ich habe die Documenta 4 vor Ort erlebt“.
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