Herzlichen Glückwunsch zum 115. Geburtstag, liebe Oma
Helene Benz, geb. Klobes
31.12.1906 - 31.01.1993
Geboren im deutschen Kaiserreich. „Heil Dir im Siegerkranz“, hast Du mir Jahrzehnte später vorgesungen und mir so ein Stück persönlichen Geschichtsunterricht erteilt. Drittes von vier Kindern, einzige Tochter.
Kurz nach der Einschulung, der Beginn des Ersten Weltkrieges. Wie mag es Dir da wohl in der Schule ergangen sein? Welche Informationen und Meinungen haben Dir wohl die Lehrer vermittelt, wie wurde im Elternhaus hierüber gesprochen? Dann, der Kaiser, dankt ab. Die erste deutsche Demokratie entsteht. Eine zarte Pflanze, angefeindet durch revanchistische Kreise. Du mittlerweile in Deinem 3. Jahrsiebt arbeitest, wie es damals für Mädchen üblich war als Haushälterin.
Aus einer sportlichen Familie stammend, bist Du natürlich auch selbst sportlich aktiv. Bis zur Bezirksmeisterin in Kugelstoßen führt Dich diese Laufbahn bei der heimischen MT. Welche Schmach selbst ein unsportliches Kind zu haben. Dein Leben lang war Dein Interesse dem Sport gewidmet. Ich erinnere mich gut daran, wie Du zu Boxkämpfen von Mohamed Ali, nachts aufstandst, um diese am Fernsehen zu verfolgen. Jede Übertragung eines Fußballspiels im Fernsehen wohntest Du bei.
Die junge Erwachsenenzeit in den „Goldenen Zwanzigern“. Hiervon hast Du mir wenig erzählt. Jahrmärkte mit Boxveranstaltungen waren wohl eher Dein Ziel. Das Mitfahren auf den schweren Motorrädern der jungen Männer für Dich interessant. Zum Tanz ging es wohl auch, hast Du doch meinen späteren Großvater auf einem Manöverball kennengelernt.
Doch zuvor Verlobung mit einem Mann aus der Nachbargemeinde, und dessen plötzlicher Tod. Hierüber hast Du wenig gesprochen. Da gab es nur das Grab neben dem Deiner Eltern, welches Du noch in meiner Kindheit gepflegt hast.
Dann das Kennenlernen von Josef. Einem Saarländer, den es nach Kassel verschlagen hatte. Fünf Jahre jünger war er, aber dies schreckte Dich nicht.
Politisch unruhige Zeiten brachen an. Die Missachtung und systematische Erniedrigung Deiner jüdischen Mitbürger berührte Dich. Du erzähltest mir von Deinen Eindrücken der Pogromnacht. Von den SS und SA Männern, die nun das Tagesgeschehen beherrschten. Du hast es still ertragen, zumindest hast Du nichts anderes erzählt.
In diese Umbruchzeit, die Schwangerschaft und die Hochzeit mit Josef. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939. Die Geburt Deiner Tochter im Januar 1939. Dein Mann ist da bereits als Soldat unterwegs. Nur auf Besuch lernt er seine Tochter kennen. Ihr lebt in der Zeit des Krieges bei Deinen Eltern im Melsunger Hospital. Dein Vater ist dort Hausmeister und Kirchendiener. Es ist eine Zeit der Instabilität und Unsicherheit. Das tägliche Warten auf neue Nachrichten. Dann fällt der kleine Bruder dem Kriegstreiben zum Opfer, später dann, kurz vor dem 38 Geburtstag das letzte Lebenszeichen Deines Mannes. Du hast es nie aufgeben zu hoffen, dass Du ihn wiedersiehst. Einmal reist Du durch ganz Deutschland in ein Lazarett nach Regensburg, da die Hoffnung bestand, ihn dort schwer verletzt zu finden. Doch er war es nicht. Wie kann man dieser Zustand der unerfüllten Hoffnung jahrzehntelang ertragen? Du lässt Josef nie für Tod erklären, noch heute gilt er als vermisst.
Dann Kriegsende, Wirtschaftswunderzeit. Doch Deine finanziellen Mittel waren als Alleinerziehende, eines vermissten Soldaten beschränkt. Eine kleine Rente erhieltest Du, die es einmalig im Monat bei der Post in Bargeld abzuholen galt. Auch hieran gibt es frühere Erinnerungen von mir. Wie wir in der Post in einer langen Schlange, Zigarre rauchender Männer anstanden, bis Dir dann am Schalter die Rente bar ausgezahlt wurde.
Im Dezember 1958, kurz vor Deinem 52 Geburtstag, trat ich in Dein Leben. Ich dachte als Kind immer, ich hätte eine alte Großmutter. Doch nun selbst ein Jahrzehnt älter als Du zu meiner Geburt habe ich es bisher nicht in den Status eines Großvaters geschafft.
Der Umzug mit Tochter, Schwiegersohn und Enkel wird nicht leicht für Dich gewesen sein. Dein Schwiegersohn hatte sich verschuldet, um seiner Familie ein Haus bauen zu können. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren wieder einmal beschränkt. Doch viel schlimmer wird wohl gewogen haben, Deine Heimatstadt zu verlassen, wo Dich jeder kannte.
Für mich als Kind waren die Besuche in Melsungen ein Schrecken. Überall und jederzeit wurdest du angesprochen: „ach Klobes Lenchen“ und Du musstest Auskunft geben, wie es Dir ging. Wir kamen nicht weiter. Ständig blieben wir stehen.
Moralisch warst Du die bestimmende Größe in meiner Kindheit. Dein Wort zählte. „Warum Omichen“, für eine gewisse Zeit ein geflügeltes Wort, von mir. Du hast mein Frauenbild nachhaltig geprägt.
Die Siebzigerjahre brachten nicht nur finanziellen Aufbruch, sondern auch Stabilität in Dein Leben an dem neuen Wohnort.
Mit über 80 Jahren erkranktes Du dann noch an Brustkrebs. Du hast es still und aufrecht ertragen, Dich nicht beklagt.
Die Geburt Deiner ersten Ur-Enkeltochter, sowie meine Promotion durftest Du dann noch miterleben. Meine Bestellung zum Steuerberater hast Du dann knapp verpasst. Eine Woche vor meiner mündlichen Prüfung verabschiedest Du Dich dann für immer, in Deiner typisch selbstverantwortlichen Art. An Weihnachten 1992 wurdest Du in das Krankenhaus eingewiesen. Warst Du bis dahin klar und interessiert gewesen, schwanden die Sinne während der Zeit im Krankenhaus. Der Entlassungstermin war bereits bestimmt. Meiner Mutter wurde gesagt, dass Du ein Pflegefall sein würdest. Zu der Entlassung kam es dann nicht mehr. Du nutztest die Morgenstunden, kurz nachdem Dich meine Eltern besucht hatten, um aus dieser Welt zu gehen.
Herzlichen Glückwunsch zum 115. Geburtstag, liebe Oma.
© 2021 - Hans Jürgen Groß