Translate

das Melsunger Schlangenhäuschen - oder: die Sache mit der Wahrnehmung



Die eigene Wahrnehmung zu reflektieren, ist immer wieder eine spannende Angelegenheit. Es wird berichtet, dass die Ureinwohner Amerikas die vor der Küste ankernden Schiffe des Kolumbus nicht wahrgenommen haben. Sie konnten diese einfach nicht sehen, obwohl sie nur ein paar hundert Meter von dem Ankerplatz entfernt waren. Wie kann so etwas sein? Und ist Euch auch schon einmal Ähnliches geschehen?

Ich wurde in der Stadt Melsungen geboren, wuchs knapp 10 Kilometer entfernt auf, kehrte mit knapp 25 Jahren zu meinen Wurzeln zurück. Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben hier verbracht, und gleichwohl gerieten so manche Dinge, in meiner näheren Umgebung, nicht in mein Bewusstsein. Mein Fokus war auf den Beruf, die Kinder beschränkt. Ein Beispiel hierfür ist das Schlangenhäuschen im Melsunger Stadtwald, welches ich erst vor einem Jahr „wirklich“ für mich entdeckte.

Der Name dieser Waldhütte war mir bekannt, auch, dass diese im Stadtwald liegt. Doch war ich ganz bewusst schon einmal dort gewesen? Dort gewesen, vielleicht. Bewusst wahrgenommen, nein.

Und so stand ich im Januar 2020 bei einer Wanderung durch den Wald plötzlich vor dieser windschiefen Hütte und nahm diese wie zum ersten Mal wahr. Mittlerweile hat es mich drei weitere Male an diesen Ort gezogen, und ich habe dieses historische Gebäude in zahlreichen Bilder dokumentiert. Der Besuch dieses Ortes führt uns in die Zeit zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zurück. Genauer gesagt, in das Jahr 1905, als der Melsunger Heimat- und Verschönerungsverein die erste Schutzhütte im Melsunger Stadtwald bauen ließ. Ihr Name ist abgeleitet von den schlangenförmig gewundenen Ästen, welche die Erbauer über dem Eingang anbrachten.

Zu dieser Zeit war Kaiser Wilhelm II. das Oberhaupt des Deutschen Reiches. Deutschland war zur drittgrößten Kolonialmacht herangewachsen. Es ist die Zeit der Wandervogelbewegung. Vergnüglich ging es in Berlin zu, als im Mai die legendäre Tänzerin Mata Hari, die spätere Spionin, ihren exotischen Schleiertanz aufführte. Der österreichischen Schriftstellerin Bertha von Suttner wurde als erster Frau der Friedensnobelpreis für ihr Werk „Die Waffen nieder!“ verliehen. Der deutsche Mediziner Robert Koch erhielt den Nobelpreis für Medizin für seine Entdeckungen auf dem Gebiet der Tuberkulose.

Die Tuberkulose war die „Volksseuche“ jener Zeit, eine bakteriell übertragbare Lungenkrankheit. Zahlreiche Lungentuberkulose-Patienten suchten auch Heilung in der am 20. April 1904 eröffneten Melsunger Lungenheilanstalt. Erbauer war die Pensionskasse für die Arbeiter der Preußisch-Hessischen Eisenbahngesellschaft. Denn neben der Tuberkulose forderte die zunehmende Industrialisierung ihren Preis in einer zunehmenden Zahl von Erkrankungen der Arbeiter. So verzeichnete man durch den Kohlenstaub beim Befeuern der Dampflokomotiven vermehrte Lungenerkrankungen der Eisenbahner.

In Nähe dieser Heilstätte entstand im Jahr 1905 das Schlangenhäuschen. Im Gegensatz zu heute, war die nahe Umgebung der Hütte bislang nicht bewaldet. Vom Schlangenhäuschen aus hatte man einen schönen Weitblick ins nördliche Fuldatal, bis hin nach Kassel. Bei den Insassen der Lungenheilstätte war dieser Ort sehr beliebt, wie die alten noch vorhandenen Erinnerungstafeln zeigen. Das Schlangenhäuschen war somit stark mit der Kureinrichtung verbunden.

Bis zum 31.12.1977 wurde die „Heilstätte“ von der Deutschen Bundesbahn als Reha-Einrichtung für Herz- und Kreislaufpatienten betrieben. Im Jahr 1979 erwarb die Firma B. Braun Melsungen AG das Gebäude und nutzt dieses nun für betriebliche Zwecke. Damit wurde es auch um das historische Schlangenhäuschen ruhiger. Es steht bis heute als ein Stück der Melsunger Kurort Geschichte.

Auf der Tafel über dem Schlangenhäuschen steht zu lesen:

„In diesem kühlen Grunde, wo die Schlangen hausten, halte lange Rast von des Alltags Hast“.

Und vielleicht liegt in dieser Botschaft der Schlüssel darin, sich eine Auszeit zu nehmen, um so die Dinge, die uns umgeben, mit neuen Augen zu entdecken.




© 2021 / 23 Hans Jürgen Groß


Beliebte Posts