An der Schwelle zur Nacht
(Weisheit der Nomaden in der Zeit)
Eine Novembermeditation von Hans Jürgen Groß
vom 10. November 2025
Es gibt eine Stunde im Jahr, die sich nicht benennen lässt. Kein Festtag markiert sie, kein Kalender trägt ihren Namen. Und doch spüren wir sie – wenn die Tage in sich selbst zurückfallen, wenn das Licht nicht mehr kämpft, sondern sich still verneigt.
An einem solchen Morgen hielt ich inne und spürte: Ich hatte die letzte Stufe des Jahres erreicht.
Die Luft schmeckte nach feuchter Erde, und Nebelschwaden spiegelten den Blick auf ein Land, das im Schatten seiner eigenen Grenzen lag. Meine Schritte auf dem Waldweg klangen gedämpft, als würde die Erde selbst den Atem anhalten – nicht, um ihn wieder aufzunehmen, sondern um ihn tiefer sinken zu lassen.
Vielleicht ist es dieser Punkt, an dem das Jahr uns prüft: ob wir bereit sind, die Dunkelheit nicht nur zu ertragen, sondern ihr zuzuhören.
Etwa vierzig Tage trennen diesen Punkt von der Wintersonnenwende, jenem tiefsten Moment des Jahres, an dem das Licht seinen Grund berührt. Danach beginnt die Erde, kaum merklich, wieder einzuatmen. Noch ruht das Leben, doch im Dunkeln wird schon der Same gelegt. Erst zu Imbolc/Lichtmess, vierzig Tage nach der Wende, wird dieses heimliche Einatmen sichtbar – wenn das erste Licht durch die Erde dringt. So als würden wir beobachten, wie der Brustkorb im Gegenüber sich langsam hebt.
Hier aber, Anfang November, geschieht das Gegenteil. Was keimen wird, zieht sich jetzt zurück. Was wachsen wird, stirbt. Wenn Imbolc das Erwachen ist, dann ist dieser Punkt die Verabschiedung. Ich nenne ihn: den Spiegel der Nacht.
Beide Punkte liegen gleich weit von der Wintersonnenwende entfernt – aber sie blicken in entgegengesetzte Richtungen. Der eine zurück auf die überwundene Nacht. Der andere voraus auf die Nacht, die noch kommt.
Anfang November stehen wir an dieser letzten hinabführenden Stufe. Das Licht stürzt. Die letzten Blätter fallen. Die Kraft zieht sich zurück. Und wer aufmerksam ist, spürt, wie etwas im Inneren mitgeht: die Energie, die Zuversicht, das helle Selbstverständnis des Sommers.
Unsere Vorfahren wussten um diesen Schwellenpunkt. Sie nannten ihn den Beginn der „Dunklen Zeit“. Nicht die Wintersonnenwende war für sie das Schwerste, sondern die Wochen davor – wenn die Nächte länger werden und das Ende noch fern ist. Hier beginnt die Prüfung.
Der November ist kein Defekt – er ist der Ausatem des Jahres.
In der Alchemie heißt es: Solve et coagula – löse und füge neu zusammen. Doch vor dem Neuen kommt das Lösen, das Vergehen, das Aufgeben der Form.
Das Dunkel ist kein Feind. Es ist die Kammer, in der das Neue reift.
Der Abstieg will nicht vermieden, er will bejaht werden.
Was stirbt im November?
Und während wir noch glauben, alles sei im Abstieg, hat sie längst begonnen, wieder zu atmen – leise, kaum spürbar, unter der Erde.
Wenn die Dämmerung früh kommt und der Nebel über den Feldern liegt, geh hinaus.
Nicht, um etwas zu suchen. Nur, um da zu sein.
Spüre die Kälte auf deiner Haut. Höre das Knirschen unter deinen Schuhen.
Und wisse: Dies ist der Spiegel der Nacht.
Jetzt ist Abstieg.
Das Licht wird zurückkehren.
Aber noch nicht.
Und das ist gut so.
© 2025 - Hans Jürgen Groß
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vertiefendes Bonusmaterial:
zusammenfassendes Video
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Zusammenfassung:
In „An der Schwelle zur Nacht“ reflektiert Hans Jürgen Groß die spirituelle und energetische Bedeutung der dunklen Jahreszeit. Der Text beschreibt den November als Schwellenzeit, in der das Licht nicht gegen die Dunkelheit kämpft, sondern aus ihr hervorgeht. Vierzig Tage vor der Wintersonnenwende beginnt ein innerer Abstieg, der nicht als Schwäche, sondern als notwendiger Rückzug verstanden wird. Die Meditation verknüpft altes Wissen, Naturbeobachtung und seelische Prozesse zu einer Einladung, den November als Zeit der Sammlung, des Loslassens und der stillen Transformation zu begreifen. Der Rhythmus der Erde wird als Atembewegung dargestellt – mit dem November als Ausatem und Imbolc als Einatem. Der Text ruft dazu auf, die Dunkelheit nicht zu verdrängen, sondern als fruchtbaren Raum für inneres Wachstum zu ehren.
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