Wünsch Dir was! - oder: die Geschichte vom Bauer und dem Mondhasen
Es war einmal, weit fort von hier, ein Bauer, der große Not litt. Trotz neuester Düngemittel und technischem Gerät warf sein Tun kaum Gewinn ab. Stunde um Stunde widmete er sich seiner Profession und sann nach Möglichkeiten, die Situation zu verbessern. Doch je mehr er unternahm, je mehr er den Empfehlungen der Experten folgte, desto auswegloser wurde seine wirtschaftliche Lage. Als gar noch seine Frau ihn mit den Kindern verließ, verlor er jeglichen Mut. Ein Fluch schien auf seinem Leben zu liegen.
Da geschah es eines Nachts, dass ihm im Traum der Mondhase* erschien, von dem ihm als Kind erzählt worden war, dass dieser jeden Wunsch erfüllen könne. Lang war es her, dass er den Mondhasen für sich als Fantasie und Lüge enttarnt hatte. Doch der Traum zwang ihn in dieser Nacht, dem Hasen zu folgen. „Ich bin gekommen, um dir zu helfen“, sagte der Hase. „Folge mir, und ich werde dich zu der Hüterin der Menschheitswünsche führen.“ Ehe er sich versah, stand der Bauer vor einem prächtigen Tor. Über diesem stand in silbernen Buchstaben geschrieben: „Jeder Wunsch wird Wirklichkeit“. „Schön“, dachte der Bauer. „Mein armseliges Leben hat nun endlich ein Ende.“ Erwartungsvoll schritt er durch das Tor.
Eine weißhaarige, alte Frau, in einem silbernen Gewand, empfing den Bauern mit den Worten: „Was immer du dir wünschst, wird sich dir erfüllen. Aber wähle gut, denn alles, was du gewinnst, fordert auch seinen Preis.“
Die alte Frau führte den Bauern durch ein Labyrinth von Räumen, einer schöner als der andere gestaltet. „Hier“, sprach die Weise, „siehst du das Schwert des Ruhmes. Wer sich das wünscht, wird ein gewaltiger Feldherr. Er eilt von Sieg zu Sieg und sein Name wird auch noch in den fernsten Zeiten genannt. Willst du das?“ „Nicht schlecht“, dachte sich der Bauer; „Ruhm ist eine schöne Sache und ich möchte zu gerne die Gesichter der Leute im Dorf sehen, wenn ich General werden würde. Aber vielleicht gibt es noch etwas Besseres zu wünschen.“ Also sagte er, „Gehen wir erst einmal weiter.“ - „Gut, gehen wir weiter“, sprach die Weise lächelnd.
Im nächsten Saal zeigte sie dem Bauern das Buch der Weisheit. „Wer sich dieses wünscht, dem werden alle Geheimnisse des Himmels und der Erde offenbart.“ Der Bauer dachte, „ich habe mir schon immer gewünscht, viel zu wissen. Das wäre vielleicht das Richtige für mich, aber wenn ich mich vorschnell festlege, versäume ich vielleicht eine bessere Möglichkeit.“ „Ich will es mir noch einmal überlegen“, entgegnete er deshalb.
Im angrenzenden Saal befand sich ein Schrein aus purem Gold. „Das ist die Truhe des Reichtums. Wer sich die wünscht, dem fliegt das Gold zu, ohne hierfür etwas zu tun.“ – „Oh“, dachte der Bauer, „das wird wohl das Richtige sein. Wer reich ist, der ist der glücklichste Mensch der Welt.“ Jedoch bemerkte er für sich, dass Glück und Reichtum zwei verschiedene Dinge sind, und er geriet ins Zweifeln. „Ich weiß nicht recht“, sagte er. „Gehen wir weiter.“
Und so ging der Bauer von Saal zu Saal, ohne sich für etwas entscheiden zu können. Als er den letzten Saal gesehen hatte, sagte die alte Frau zu dem Bauern: „Nun wähle. Was immer du dir wünschst, wird erfüllt werden.“ „Du musst mir noch ein wenig Zeit lassen, ich muss mir die Sache noch etwas überlegen“, sprach der Bauer. - „Soll ich den Ruhm, die Weisheit, oder den Reichtum wählen? Oder gar die Macht, die Gesundheit, die Unsterblichkeit?“, fragte er sich insgeheim. Der Bauer fühlte sich von allem angezogen und konnte sich nicht entscheiden. „Ach, wie schön wäre es, wenn mir die Alte einfach sagen würde, was mir am besten gereicht.“ - In demselben Augenblick, wie sich dieser Gedanke in ihm formte, schloss sich das Tor und die Weise war verschwunden.
Der Bauer fand sich am Ausgangspunkt des Traumes wieder. Der Mondhase saß vor ihm und sprach: „Armer Bauer, wie du, sind die meisten Menschen. Sie wissen nicht, was sie sich wirklich wünschen sollen. Sie wünschen sich alles und bekommen nichts. Was immer sich einer wünscht, das schenken ihm die Götter – aber der Mensch muss wissen, was er will.“
Etwas war anders an diesem Morgen. Die Sonne stieg wie gewohnt rot leuchtend im Osten auf. Er hatte tief und fest geschlafen. Er wusste, er hatte geträumt, doch er konnte sich nicht daran erinnern. Gleichzeitig nahm er in seinem Inneren eine kraftvolle Klarheit wahr, die in ihm aufstieg. Er wusste nun, was es für ihn zu tun galt.
Jahre später war aus dem Bauern ein alter Mann geworden. Eines Tages schickte die Königin einen Gesandten, der ihn nach dem Geheimnis seines Erfolges und maßlosen Reichtums befragen sollte. „Ach“, antwortete der alte Bauer auf diese Frage. „Eines Morgens erwachte ich, sah wie zum ersten Mal die Sonne über den Feldern aufgehen und erkannte, dass alles so gut ist, wie es gerade ist. Ich spürte eine tiefe Ruhe und Zufriedenheit mit mir und meinem Leben. Fortan genoss ich die Schönheit meiner Welt und vertraute der Stimme meines Herzens, die zu mir sprach. Je mehr ich mir selbst gewahr wurde, umso einfacher und glücklicher wurde mein Leben.“
(Frei, nach einem chinesischen Märchen.)
* Der Mondhase, ist ein in der japanischen, koreanischen und chinesischen Mythologie existierendes Wesen.
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Zusammenfassung:
Was würdest du dir wünschen, wenn du die Chance hättest, dein Leben zu verändern? Diese Frage stellt sich ein armer Bauer, der in einem Traum von einem Mondhasen zu einer alten Frau geführt wird, die ihm jeden Wunsch erfüllen kann. Doch der Bauer kann sich nicht entscheiden, was er sich wünschen soll, und verpasst die Gelegenheit, sein Schicksal zu wenden. Als er aufwacht, spürt er jedoch eine neue Klarheit und Zufriedenheit in sich und beginnt, seinem Herzen zu folgen. Jahre später ist er ein reicher und glücklicher Mann, der der Königin sein Geheimnis verrät. Eine märchenhafte Geschichte über Wünsche, Entscheidungen, Glück und Zufriedenheit.
Stichworte:
Mondhase, Märchen, Geschichte, Sinngeschichte, Wünsche, Entscheidungen, Glück, Zufriedenheit, Vertrauen, Herzentscheidung, TraumlandfilmText und Fotos © 2022 - Hans Jürgen Groß