Das Märchen vom verlorenen Gleichgewicht auf der Wolke
Habt ihr euch eigentlich schon einmal gefragt,
warum die Wolken am Himmel immer gerade dahinziehen?
Warum sie nicht einfach umkippen und zur Erde fallen?
Warum sie so still über uns schweben, als hielten sie ein Geheimnis?
Das nachfolgende Märchen gibt einen kleinen Hinweis auf diese Fragen.
Vielleicht ist es mehr als nur eine Geschichte –
vielleicht ist es ein Bild für das, was uns alle trägt.
Und für das, was geschieht, wenn etwas aus dem Gleichgewicht gerät.
Das Märchen vom verlorenen Gleichgewicht auf der Wolke
Es war einmal, hoch oben im Himmel, jenseits der Sicht der Menschen, eine große, helle Wolke. Auf ihr lebten fünf Wesen – menschenähnlich, freundlich und still. Jeder dieser Wolkenbewohner hatte seine eigene Sicht auf das Leben, und gemeinsam ergänzten sie einander. Die Wolke war ihr Zuhause – doch sie war auch Aufgabe und Sinn. Denn sie blieb nur dann im Gleichgewicht, wenn alle aufeinander achtgaben. Eine Bewegung, ein Wort, ja selbst ein Gedanke konnte das zarte Gleichmaß ins Wanken bringen, sodass die Wolke abzustürzen drohte.
Jeden Morgen, wenn der Himmel rosig schimmerte, saßen die Fünf am Rand der Wolke und spielten ein leises Spiel: Sie ließen silberne Stäbe in die Tiefe der Luft gleiten und stellten sich vor, was sie wohl aus dem Unsichtbaren zögen. Manches Mal war es ein fliegender Kuss, ein schlafendes Lied oder ein Tropfen Zeit – alles erdacht, alles leicht.
Doch eines Tages zog einer von ihnen etwas herauf, das wir Menschen wohl als echt oder real bezeichnen würden. Es war ein grauer, schwerer Stein. Der Wolkenbewohner, der diesen Fang gemacht hatte, war zuerst überrascht, dann lachte er triumphierend – während die anderen ihn schweigend anschauten. Der Stein war anders als das, was sie in ihrer Fantasie gefangen hatten. Er wog. Er zog. Und er weckte etwas in ihnen, das sie nie zuvor gespürt hatten: ein Habenwollen, ein Meinsagen, ein Ich.
So begann ein lautloser Wettkampf um den Stein. Es bildeten sich Koalitionen. Einer griff nach dem Stein, ein Zweiter wich zurück. Ein Dritter lief ans andere Ende der Wolke, um das Gewicht auszugleichen. Sie wechselten Plätze, wurden Verbündete, wurden Gegner. Für einen Beobachter hätte es wie ein Tanz gewirkt – doch es war ein Kampf, ein Ringen um den Besitz des Steins.
Schließlich riss einer den Stein an sich und stieß einen anderen beiseite. Der fiel – nicht schreiend, nur still – und verschwand stürzend unter der Wolke. Bald fiel ein Zweiter. Und ein Dritter.
Am Ende blieb nur einer übrig. Er stand allein, starrte auf den Stein am anderen Ende der Wolke und erkannte: Seine Aufgabe war nun allein, das Gleichgewicht der Wolke zu wahren. Er durfte sich nicht bewegen, nicht greifen, nicht lehnen. Nur stehen. Und tragen. Alle Leichtigkeit war verschwunden – das Schicksal der Wolke lastete schwer auf seinen Schultern, wie der Stein ihm gegenüber.
Tränen liefen ihm übers Gesicht und tropften durch die Wolke hindurch. Auf der Erde fiel Regen. Doch als die Tropfen die Welt berührten, begann der graue Stein zu leuchten – in Farben, die nur ein trauerndes Auge erkennt.
Er ahnte nicht, dass unter der Wolke eine zweite schwebte – weich genug, um die Gestürzten aufzufangen. Sie waren erschrocken, verunsichert – und doch heil. Als der Nebel des Schrecks sich lichtete, erkannten sie, tief berührt und weinend, was sie wirklich verloren hatten: Nicht der Stein war es, sondern das unsichtbare Band zwischen ihnen.
Da erschien am Himmel ein Regenbogen. Aus Tränen geboren, verband er die Wolken wie eine Brücke. Die Gestürzten stiegen hinauf – nicht als Opfer oder im Triumph des moralischen Siegers, sondern im Verstehen. Und der eine, der geblieben war, erkannte sie – und empfing sie mit offenem Herzen.
Und wieder nahmen sie ihren Platz ein, gingen ihrer eigentlichen Aufgabe nach, die ihnen Sinn und Lebendigkeit schenkte: das Gleichgewicht der Wolke zu halten. Und der Stein? Sie ließen ihn liegen, wo er lag – als Symbol ihrer Gemeinschaft und Mahnung. Das Gleichgewicht der Wolke war nicht mehr nur eine Pflicht. Es war ein Versprechen, das sie einander gaben – in jedem Augenblick neu.
Und so feiern sie noch heute das Fest der Freundschaft, jedes Jahr, auf ihrer Wolke. Der graue Stein des Geschehenen liegt in ihrer Mitte – nicht als Last, sondern als Erinnerung. Und wenn du jemals einen Tropfen auf deiner Stirn spürst, obwohl der Himmel klar ist, so könnte es sein, dass eine Freudenträne gefallen ist – von dort oben, wo das Gleichgewicht wohnt.
© 2025 Hans Jürgen Groß
Anmerkung
Diese Erzählung ist Bestandteil meiner Seminarreihe "Achtsamkeit und Resilienz“. Bereits im Jahr 2023 habe ich mich dem Thema auf erzählerische Weise angenommen: https://tinyurl.com/ytqwj8r3
Die Erzählung wurde inspiriert durch den Oskar-prämierten Kurzfilm Balance von Christoph und Wolfgang Lauenstein aus dem Jahr 1989.
Videoversion:
Interpretation durch Google Gemini:
Die Parabel vom Zerbrechen und Finden des Gleichgewichts
Hans Jürgen Groß' "Das Märchen vom verlorenen Gleichgewicht auf der Wolke" ist eine tiefgründige Parabel, die uns auf poetische Weise vor Augen führt, wie zerbrechlich unsere Beziehungen und Gemeinschaften sind. Die Geschichte spielt sich auf einer Wolke ab, die als ein mächtiges Symbol für das empfindliche Gleichgewicht dient, das wir in unserem Leben und Zusammenleben bewahren müssen.Der fragile Anfang und die zerstörerische Gier
Zu Beginn schildert das Märchen eine idyllische Harmonie. Fünf menschenähnliche Wesen leben auf der Wolke, jedes mit seiner eigenen Perspektive, aber alle achtsam aufeinander bedacht. Ihr Spiel, bei dem sie imaginäre Dinge aus der Luft fischen, steht für die Leichtigkeit, Kreativität und das gemeinsame, unbeschwerte Miteinander, das ihre Existenz ausmacht. Die Wolke schwebt stabil, solange dieses stille Band des gegenseitigen Respekts und der Achtsamkeit intakt ist. Selbst ein kleiner Gedanke, ein Wort, eine Bewegung kann dieses zarte Gefüge stören.
Doch diese Harmonie wird jäh unterbrochen, als eines der Wesen einen schweren, grauen Stein heraufzieht. Dieser Stein ist das zentrale Symbol der Geschichte; er repräsentiert die Verführung durch materiellen Besitz, Gier oder egoistische Macht. Seine Schwere und seine Anziehungskraft wecken in den anderen Wesen etwas Neues und Zerstörerisches: "ein Habenwollen, ein Meinsagen, ein Ich." Plötzlich tritt das Individuum in den Vordergrund, und das, was einst leicht und spielerisch war, wird zu einem ernsten, "lautlosen Wettkampf". Koalitionen bilden sich, Verbündete werden zu Gegnern – ein "Kampf in schönen Kleidern", der das wahre Gesicht des Egoismus zeigt.
Der Fall und die Erkenntnis des Verlusts
Die dramatischen Konsequenzen dieses Kampfes sind unausweichlich: Eines nach dem anderen fallen die Wesen von der Wolke. Ihr stilles Verschwinden unterstreicht die bittere Realität des Scheiterns von Gemeinschaften, wenn persönliche Interessen über das Wohl aller gestellt werden. Zurück bleibt nur einer, allein und gefangen in seiner neuen Aufgabe: das Gewicht des Steins, der am anderen Ende liegt, auszugleichen. Der begehrte Besitz ist zur Bürde geworden, die ihn bewegungslos festhält. Die einstige Leichtigkeit weicht einer schweren Last.
Die Tränen des Verbliebenen, die als Regen auf die Erde fallen, symbolisieren den Schmerz und die Läuterung, die mit solchem Verlust einhergehen. Bemerkenswert ist, dass der Stein selbst zu leuchten beginnt, "in Farben, die nur ein trauerndes Auge erkennt". Dies deutet darauf hin, dass Schmerz und Leid auch zu tiefer Einsicht und einer neuen Art von Schönheit führen können.
Wiedergeburt und das Versprechen des Regenbogens
Der Wendepunkt der Geschichte ist die Offenbarung der zweiten, weichen Wolke, die die Gestürzten auffängt. Dies ist ein Zeichen der Hoffnung und Vergebung. Die Gefallenen sind zwar erschrocken, aber unversehrt – sie haben die Chance auf einen Neuanfang. Ihre entscheidende Erkenntnis ist, dass nicht der Stein, sondern das "unsichtbare Band zwischen ihnen" das war, was sie wirklich getragen und glücklich gemacht hatte. Der materielle Besitz war trügerisch, die zwischenmenschliche Verbindung aber unendlich wertvoll.
Der Regenbogen, geboren aus den Tränen, symbolisiert die Versöhnung und die Wiederherstellung der Verbindung. Die Rückkehr der Gestürzten auf die Wolke ist kein Triumph über den Verbliebenen, sondern ein Aufstieg "im Verstehen". Der letzte Verbliebene empfängt sie "mit offenem Herzen", was die gegenseitige Reue und die Bereitschaft zur Wiederherstellung der Harmonie zeigt.
Das neue Gleichgewicht: Ein ewiges Versprechen
Die Gemeinschaft findet zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurück: dem Halten des Gleichgewichts der Wolke. Der Stein bleibt liegen, nicht als Last, sondern als Symbol und Mahnung an das Geschehene. Das Gleichgewicht ist nun nicht mehr nur eine Pflicht, sondern ein bewusstes, "in jedem Augenblick neu" gegebenes Versprechen aneinander. Das jährliche Fest der Freundschaft, das sie feiern, besiegelt diese erneuerte Verbundenheit.
Die Geschichte endet mit einem poetischen Bild des Regentropfens, einer "Freudenträne" von der Wolke, die uns daran erinnert, dass wahres Gleichgewicht nicht statisch, sondern ein dynamischer Prozess des gegenseitigen Achtens und Liebens ist. Es ist eine fortwährende bewusste Entscheidung, die uns trägt und uns ganz sein lässt.
Zusammenfassung:
Vom Gleichgewicht, das uns trägt
Hoch oben, auf einer schwebenden Wolke, lebten fünf stille Wesen im Einklang – jeder anders, alle gemeinsam. Ihr Zuhause blieb nur dann im Gleichgewicht, wenn sie aufeinander achtgaben. Ein Spiel verband sie: das gemeinsame Erträumen von Unsichtbarem – leicht, verspielt, verbunden.
Doch eines Tages kam etwas Echtes ans Licht: ein grauer, schwerer Stein. Und mit ihm erwachten Gier, Trennung und Streit. Was wie ein Tanz aussah, war in Wahrheit ein stiller Kampf um Besitz. Einer nach dem anderen stürzte, bis nur noch einer blieb – als stummes Gegengewicht, allein, mit dem Stein in der Ferne.
Er wusste nicht, dass seine Gefährten sanft aufgefangen worden waren – und nun erkannten, was sie wirklich verloren hatten: das unsichtbare Band zwischen ihnen. Als ein Regenbogen die Wolken verband, fanden sie zurück. Nicht als Sieger. Sondern als Verstehende.
Der Stein blieb, wo er war – nicht als Preis, sondern als Mahnung. Und das Gleichgewicht wurde von nun an nicht mehr nur gehalten, sondern gehütet – wie ein Versprechen.
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