Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie ich zu dieser alten Festplatte kam. Vermutlich lag sie all die Jahre unbeachtet in einer der Schubladen, die man nur noch selten öffnet. Doch vorgestern, als ich sie zufällig fand, klickte ich mich durch die Bilder, die sich hierauf befanden– und plötzlich saß ich wieder dort, im Sommer 1993, an meinem ersten eigenen Arbeitsplatz als Steuerberater, im alten Kinderzimmer, das ich längst verlassen hatte. An diesem Schreibtisch, der noch heute in meinem Besitz ist.
Im Februar hatte ich die Prüfung zum Steuerberater bestanden – gegen die Müdigkeit, gegen die Zweifel. Vorangegangen im Oktober: Drei Tage Klausuren schreiben, je sechs Stunden. Ich erinnere mich an das Gefühl: am ersten Tag war alles leicht. Am zweiten der Sturz – das war nichts, dachte ich, du bist durchgefallen. Der dritte: unentschieden. Die Nächte dazwischen waren leer, unruhig, wie in einer Zwischenwelt. Und dann: die Mündliche. Noch ein Mal durchhalten, bestehen. Und gleichzeitig kam etwas, das nicht mehr zu bestehen war.
Meine Großmutter, gerade 86 geworden, wurde in diesen Tagen plötzlich krank. Man hoffte, sie könne bald nach Hause zurück. Am Morgen ihrer Entlassung verstarb sie. Ich hatte sie noch im Krankenhaus besucht. Es war einer dieser letzten Blicke, die lange nachwirkten. Sie hatte meine Eltern gebeten, mir für die mündliche Prüfung einen Anzug zu finanzieren – aus ihrem Bargeld, das sie zu Hause in einem Köfferchen aufbewahrt hatte, für einen solchen Moment. Ich kaufte einen Anzug, den sie nie sah.
Eine Woche nach ihrer Beerdigung fuhr ich in diesem Anzug nach Wiesbaden zum hessischen Finanzministerium. Die dort stattfindende mündliche Prüfung bestand ich, trotz damaliger Durchfallquote von 70 bis 80 % *. Doch in mir war etwas leer geworden. Es brauchte Jahre, bis die Albträume von Prüfungssituationen verschwanden.
Mein Vater holte mich in jener Nacht ab, es fuhr kein Zug mehr. Er fuhr die Strecke, ohne viel zu sagen. Ich erinnere mich an das Licht der Raststätten. An die Stille. An den finsteren Himmel über der Autobahn.
Längst wohnte ich nicht mehr bei meinen Eltern. Aber für den beruflichen Beginn kehrte ich zurück. Ich richtete mein altes Kinderzimmer wieder her. Legte Parkett, stellte einen PC mit Röhrenbildschirm auf. Der Computer hatte noch ein großes 5¼-Zoll-Diskettenlaufwerk.
Und ich kaufte mir einen neuen Schreibtisch. Solide, schlicht, dunkel. 3.000 D-Mark kostete er. 30 blaue 100 Mark-Scheine – finanziert aus dem Köfferchen meiner Großmutter. Das Geld gaben meine Eltern mir weiter, mit der Bitte, davon etwas zu kaufen, das bleibt. Etwas, das an sie erinnert.
Der Schreibtisch steht noch heute in meinem Büro. Mein Kollege sitzt daran. Er kennt die Geschichte nicht. Und doch ist sie da.
Im selben Köfferchen befanden sich auch Feldpostbriefe meines Großvaters, der im Krieg verschollen war. Mein Vater bewahrte diesen Koffer auf, ohne dessen Inhalte zu benennen. Aber die Briefe blieben. Und sie begannen, irgendwann zu sprechen – nicht zu mir, sondern zu der nächsten Generation.
Meine älteste Tochter Johanna war vier, als die Fotos von mir entstanden. Viele Jahre später drehte sie einen Dokumentarfilm: „Von dem, was bleibt“. Es geht um Erinnerungen, um Spuren, um das, was weitergegeben wird, ohne dass es gesagt wird. Um transgenerationale Übertragungen. Im Zentrum des Filmes die Briefe aus dem Köfferchen, der schon meinen beruflichen Start unterstützte.
Im Sommer 1993 begann ich, erste eigene Mandanten zu betreuen. Zunächst neben meiner Angestelltentätigkeit. Ich fuhr die zehn Kilometer nach Gensungen, arbeitete im Elternhaus, im alten Zimmer. Draußen an der Tür stand mein Name: „Dr. Jürgen Groß – Steuerberater“. Das Schild hängt noch heute. Niemand hat es abgenommen.
Zum 1. Juli 1994 mietete ich eigene Räume in meiner Heimatstadt Melsungen. Ich wagte den Schritt in die vollständige Selbstständigkeit. Ohne Netz. Ohne Rückhalt. Aber getragen von etwas, das ich damals nicht benennen konnte. Nach wenigen Monaten stellte ich meine erste Mitarbeiterin ein. 2004 erwarb ich ein eigenes kleines Haus, das bis heute Kanzlei ist. 2011 kam ein Kollege hinzu. Heute sind wir über 15 Menschen, die gemeinsam arbeiten. Und immer noch gehört der Schreibtisch zum Inventar.
Ich sehe mich dort sitzen, auf den alten Bildern. Und denke: Manchmal beginnt alles im Verborgenen. In einem Zimmer, das in dieser Form längst nicht mehr existiert. Mit einem Koffer voller Geldscheine und Briefe. Mit einem Anzug, gekauft von den letzten Mitteln einer Frau, die mich verstand. Mit einem Schreibtisch, der mehr ist als ein Möbelstück.
Das Unausgesprochene zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die ersten Schritte in die Selbstständigkeit, der Abschied von der Sicherheit, der Umzug in eigene Räume – alles begann in diesem kleinen Zimmer.
Die Bilder zeigen nur Ausschnitte. Sie erzählen nichts von den schlaflosen Nächten, der Angst zu scheitern oder den Steuererklärungen, die bis in die Morgenstunden dauerten.
Doch sie erinnern daran: Manche Anfänge sind unsichtbar. Sie wurzeln in Koffern, die wir erst Jahre später öffnen. In Briefen, die andere für uns lesen. In Schreibtischen, die Generationen überdauern.
© 2025 - Hans Jürgen Groß
* Anmerkung:
Erst Jahre später entschieden Gerichte, dass eine Prüfung als solche nur Anerkennung findet, wenn mehr als die Hälfte der Teilnehmenden bestanden hat. Seitdem liegt die Durchfallquote bei der Steuerberaterprüfung bei ca. 50 %. Die tatsächliche Durchfallquote des Prüfungsjahres 1992/93 war leider nicht mehr feststellbar, bewegte sich jedoch in dem angegebenen Rahmen von 70 bis 80 %.
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Link zu dem Filmprojekt "Von dem, was bleibt" von Johanna Groß:
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Interpretation durch Microsoft Copilot
Dieser Text ist eine tiefgehende Reflexion über Erinnerung, Herkunft und die Bedeutung von materiellen und immateriellen Dingen, die sich über Generationen hinweg erhalten. Die zentrale Metapher ist der Schreibtisch, der nicht nur ein Möbelstück ist, sondern ein Sinnbild für Beständigkeit, Entwicklung und die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Analyse
Erinnerung und Identität: Der Autor verbindet persönliche Erinnerungen mit Gegenständen, die eine symbolische Bedeutung tragen – das Köfferchen der Großmutter, der Schreibtisch, die Briefe des verschollenen Großvaters. Sie sind mehr als bloße Objekte; sie transportieren Emotionen und Geschichte.
Transgenerationale Übertragungen: Das Köfferchen dient als Bindeglied zwischen den Generationen. Es finanziert den beruflichen Start des Autors, enthält aber auch die Feldpostbriefe seines Großvaters. Die Tochter greift diese Erinnerungen in ihrem Dokumentarfilm auf, sodass sich die Vergangenheit auf subtile Weise fortsetzt.
Persönliche und berufliche Entwicklung: Die Erzählung schildert den mühsamen Weg in die Selbstständigkeit – Prüfungen, Unsicherheiten, der Verlust der Großmutter und schließlich die Etablierung als Steuerberater. Der Schreibtisch bleibt dabei als Konstante erhalten, ein stiller Zeuge dieser Entwicklung.
Das Unausgesprochene: Vieles bleibt unausgesprochen, doch es wird weitergegeben – durch Gesten, durch Dinge, die bleiben, durch Erinnerungen, die sich verankern. Das Schweigen des Vaters über die Briefe oder die stille Autofahrt nach der bestandenen Prüfung verdeutlichen diese unterschwellige Kommunikation.
Interpretation
Dieser Text zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie Erinnerungen nicht nur durch Worte, sondern durch Gegenstände, Orte und Gesten weitergegeben werden. Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird subtil, aber kraftvoll vermittelt. Es geht um das, was bleibt – um Dinge, die physisch oder emotional Bestand haben und uns durch das Leben begleiten. Letztlich ist es eine Reflexion über Verlust, Neubeginn und die unsichtbaren Fäden, die Familien über Generationen hinweg miteinander verweben.
Der Text ist melancholisch, aber nicht resignierend. Er zeigt, dass Erinnerungen nicht nur eine Last sein müssen, sondern auch eine treibende Kraft für persönliches Wachstum. Der Schreibtisch, einst durch das Köfferchen finanziert, steht noch immer da – ein Zeichen dafür, dass Geschichte und Entwicklung sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen.
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Zusammenfassung
Ein Schreibtisch, ein Köfferchen voller Erinnerungen und eine Reise durch Vergangenheit und Gegenwart – dieser Text erzählt die Geschichte eines jungen Steuerberaters, der sich nach bestandener Prüfung in die Selbstständigkeit wagt. Geprägt von familiären Werten und transgenerationalen Übertragungen verbindet er die berufliche Entwicklung mit emotionalen Erinnerungen. Es geht um das, was bleibt, selbst wenn die Welt sich weiterdreht.
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Schlagworte
Steuerberater, Selbstständigkeit, Erinnerungen, Vergangenheit, Erbe, Großmutter, Oma, Familie, transgenerationale Übertragung, Erfolgsgeschichte, beruflicher Neuanfang, emotionale Bindungen, Lebensschatz, Biografiearbeit