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Kamille sammeln, oder: Kindheit am Wegrand

Weit reicht der Blick über die Felder ins Tal hinab, bis er abrupt an der nächsten Erhebung zur Ruhe kommt. Ein Gefühl von Heimat stellt sich ein. Ja, dies ist meine nordhessische Heimat, in der ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe. Würde ich diese Landschaft mit den Augen eines Fremden betrachten, so wäre ich von ihrem Anblick ebenso angesprochen wie berührt.

Doch auch für mich, der diesen Landstrich mit seinen Hügeln allzu gut kennt, gibt es links und rechts des Weges immer wieder Neues und Altbekanntes zu entdecken – so wie gestern Abend, als ich zu einem Spaziergang aufgebrochen war.

Das Korn auf den Feldern wiegte sich sanft. Am Wegrand blühte der Klatschmohn. In einem intensiven Rot leuchteten die Blüten hinter dem Grün des Getreides hervor. Nur das satte Blau der Kornblumen konnte ihnen die Aufmerksamkeit streitig machen. Unauffälliger verhielt sich die Kamille, die ihre kleinen gelben Köpfe im Kornfeld verbarg.

Erinnerungen stiegen in mir auf – Erlebnisse aus einer Zeit, in der ich mich wohl umsorgt fühlte, obwohl das Leben mir bereits manche Sicherheit genommen hatte. Es war die Zeit weit vor der Einschulung, als ich neugierig und voller Zuversicht meine Umwelt wahrnahm. Die Jahreszeiten schritten langsam voran, und jeder Augenblick war von seinem ganz eigenen Zauber durchdrungen.

Es muss wohl Ende Mai, Anfang Juni gewesen sein, als ich mit meiner Mutter und Großmutter am Abend durch die Felder spazieren ging. Die Wege waren mit Kornblumen und Mohn gesäumt, und die wilde Kamille verströmte ihren typisch süßlichen Duft. Diese Kamillenblüten waren das Ziel unserer Spaziergänge. Gemeinsam pflückten wir sie. Eine Tasche, aber auch die gefaltete Strickjacke der Großmutter dienten als Sammelbehälter.

Zu Hause angekommen, wurde der Schatz auf alten Zeitungen ausgebreitet und zum Trocknen in die Sonne gelegt. Diese Sammelausflüge endeten stets zu Johanni, dem 24. Juni – so erzählte es mir meine Oma –, denn nach diesem Tag seien die Blüten nicht mehr genießbar.
„Warum, Omichen?“, fragte ich in kindlicher Wissbegier.
„Weil das so ist“, lautete die Antwort. Und damit war alles klar.

In der Erinnerung an jene Zeit, die mir damals ungemein lang erschien, lagen die Kamillenblüten viele Tage in der Sonne, bevor meine Großmutter sie von Blattwerk und Stielen befreite und zu Kamillentee verarbeitete. Diesen tranken wir das Jahr über abends, er kam aber auch bei Magenschmerzen und Unwohlsein zum Einsatz.

Die Zeit des Kamillesammelns wiederholte sich noch einige Jahre. Dann begannen die Landwirte, ihre Felder zu düngen und zu spritzen, und meine Großmutter stellte aus Angst vor dem Gift ihre Sammelspaziergänge ein. Jahre später säumten die Felder weder Blumen noch Kamille. Erst in jüngster Zeit sind sie wieder an den Ackerrändern zu finden.

Und in jedem Jahr kehrt, wenn ich an einem solchen Feld vorübergehe, die Erinnerung an die Großmutter und den Zauber des Kindheitserlebens zurück – an eine Zeit, in der ich mich wohl umsorgt fühlte, obwohl das Leben mir bereits manche Sicherheit genommen hatte.







© Text: 2020 Anmerkungen: 2025 - Hans Jürgen Groß


* * *

Anmerkung: 

Warum Kamille nur bis Johanni (24. Juni) gesammelt wird – und wie es heute gesehen wird

Traditionelle Begründung

In der Volksheilkunde galt die Regel, Kamille nur bis zum Johannistag (24. Juni) zu sammeln. Dafür gab es mehrere Gründe:
  1. Beste Wirkstoffkonzentration: Um den Johannistag herum ist die Blütezeit der Kamille (Matricaria chamomilla) auf ihrem Höhepunkt. Danach verblühen viele Pflanzen, und der Gehalt an ätherischen Ölen (wie Bisabolol und Chamazulen) nimmt ab.
  2. Aberglaube & Brauchtum: Der Johannistag markierte im bäuerlichen Kalender den Beginn der Erntezeit. Viele Heilkräuter sollten vor diesem Termin gepflückt werden, da sie danach „ihre Kraft verlieren“ oder sogar „giftig“ würden – eine mythologische Vorstellung, die sich in Sprüchen wie „Nach Johanni nimmt die Kräuterkraft ab“ widerspiegelt.
  3. Praktischer Grund: Später im Sommer steigt die Gefahr von Schimmel oder Verunreinigung durch Insekten, da die Blüten feuchter und anfälliger werden.
Moderne Sichtweise

Heute wird die Johanni-Regel differenzierter betrachtet:
  • Botanische Erkenntnisse: Zwar stimmt es, dass Kamille im Frühsommer besonders wirksam ist, doch bei optimalen Bedingungen (sonniger Standort, wenig Regen) können die Blüten auch noch im Juli geerntet werden.
  • Umwelteinflüsse: Durch Pestizide und intensive Landwirtschaft sind wild wachsende Kamillen seltener geworden. Bio-Kamille aus eigenem Anbau oder kontrolliertem Wildwuchs kann oft länger gesammelt werden.
  • Wissenschaftliche Studien: Pharmakologische Untersuchungen bestätigen, dass der optimale Erntezeitpunkt tatsächlich um die Vollblüte (Juni) liegt – aber strikte zeitliche Grenzen wie der 24. Juni sind eher traditionell als wissenschaftlich fundiert.
Fazit

Die Johanni-Regel hat einen wahren Kern, ist aber kein absolutes Naturgesetz. Wer Kamille sammelt, sollte eher auf die Blütenqualität (frisch geöffnet, keine braunen Stellen) und Standortbedingungen (ungespritzte Felder!) achten als auf ein Kalenderdatum. Die Großmutter im Text folgte wohl vor allem überliefertem Wissen – und vielleicht auch dem Zauber, den Rituale der Kindheit bis heute bewahrten.

Quellen: Volksheilkundliche Überlieferungen, pharmakologische Studien zu Matricaria chamomilla, Text: DeepSeek (21.06.2025)






Interpretation durch Microsoft Copilot

Der Text „Kamille sammeln, oder: Kindheit am Wegrand“ von Hans Jürgen Groß ist eine tief empfundene, poetische Erinnerungserzählung. Es geht um mehr als einen Spaziergang durch nordhessische Felder — es ist eine Reflexion über Heimat, Natur, familiäre Geborgenheit und den Verlust von Unschuld und Sicherheit.

Groß schildert in liebevollen Details die Landschaft Nordhessens: sanfte Hügel, blühender Mohn, Kornblumen – und die unscheinbare Kamille, die zur zentralen Metapher des Textes wird. Sie steht für die vergängliche Schönheit der Kindheit, für das Ritualhafte im Alltäglichen, für das Sammeln von Momenten, die tief im Gedächtnis verwurzelt bleiben.

Die Erzählung lebt stark von der Sinnlichkeit: Farben, Düfte, das Licht des Abends. In der Rückschau des Autors erscheint die frühe Kindheit als eine Zeit stiller Sicherheit, in der kleine Rituale – wie das Kamillesammeln mit Mutter und Großmutter – Geborgenheit schaffen. Doch diese Idylle wird nicht verklärt. Der Text spricht auch leise von Verlust: dem Fortschritt der Landwirtschaft, der Vergiftung der Felder, dem Schwinden der Wildblumen – und letztlich dem Ende der Kindheit selbst.

Besonders bewegend ist die Rolle der Großmutter: Sie steht sinnbildlich für Tradition, Weisheit und Zuwendung. Ihre einfache Erklärung „Weil das so ist“ wird zum Ausdruck bedingungslosen Vertrauens in das Wissen der Älteren – ein Vertrauen, das mit dem Erwachsenwerden an Selbstverständlichkeit verliert.

Insgesamt ist der Text eine zärtliche Erinnerung an die stille Poesie alltäglicher Kindheitserlebnisse. Er zeigt, wie tief sinnliche Eindrücke – ein Duft, ein Licht, ein Weg – im Gedächtnis verankert sein können und uns ein Leben lang begleiten.




Zusammenfassung:

Eine Kindheit zwischen Kornblumen und Kamille. In Hans Jürgen Groß’ poetischem Text „Kamille sammeln, oder: Kindheit am Wegrand“ entfaltet sich die leise Magie früher Erinnerungen, eingebettet in die nordhessische Landschaft. Ein liebevoller Rückblick auf familiäre Rituale, Naturverbundenheit und den stillen Wandel der Zeit. Wer sich nach Heimat, Geborgenheit und einfachen Antworten sehnt – sollte diesen Text lesen.


Stichworte: Kindheitserinnerung, Heimat, Nordhessen, Kamillesammeln, Großmutter, Naturpoesie, Feldblumen, Entschleunigung, Familienrituale, ländliche Idylle, Sommerduft, Vergangenheit, Achtsamkeit.





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